Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
sich enorm viel.
Clemens G. Arvay: Wagen wir jetzt den Schritt vom Homo demens hin zum Homo sapiens. Machen wir uns noch einmal bewusst, dass wir nicht ohnmächtig sind, sondern eine gültige Stimme haben, Entscheidungen treffen und Handlungen setzen können. Was sind die Eckpunkte deines Experiments „Gültige Stimme“?
Roland Düringer: In „Gültige Stimme“ geht es um die Veränderung von Rahmenbedingungen meines Lebens. Meine Lebenssituation in den Siebzigerjahren diente mir dabei zur Orientierung. Was bedeutet es, nur mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein und nicht mehr mit dem Auto zu fahren? Was verändert sich in deinem Leben, wenn du kein Mobiltelefon eingesteckt hast? Was verändert sich, wenn du keine E-Mail-Adresse mehr benutzt? Wie wirkt sich der Verzicht auf Medienkonsum aus? Wie lebt man ohne Zeitung, ohne Radio, ohne fernzusehen? Und was bedeutet es konkret, nicht mehr in Supermärkte zu gehen und damit Konzerne nicht mehr zu unterstützen?
Mit irgendetwas musste ich also anfangen und das war, im Jänner 2013, der Verzicht auf das Auto. Bevor wir jetzt aber über Details sprechen, möchte ich noch eines vorausschicken: Ursprünglich wollte ich mein Experiment in Form eines Dokumentarfilms umsetzen. Es gab da einen amerikanischen Dokumentarfilm von Morgan Spurlock mit dem Titel „Supersize Me“. Ein Mann als Hauptfigur dieses Films ernährte sich experimentell sechs Wochen lang nur von Fast Food. Wann immer sie ihm beim Bestellen imFast-Food-Restaurant die Frage stellten „Supersize?“, antwortete er „Ja!“ Frühstück, Mittagessen und Abendessen bei McDonald’s und in anderen Fast-Food-Restaurants. Das Selbstexperiment wurde ärztlich begleitet und bereits nach wenigen Wochen riet der Arzt dazu, das Projekt abzubrechen, da die Leber des Protagonisten rasch anfing zu leiden. Das Ganze wurde gefilmt und ich fand diesen Ansatz interessant. Mein eigenes Experiment „Gültige Stimme“ ist natürlich nicht so radikal, aber es wäre dennoch spannend gewesen, es filmisch zu dokumentieren. Also traf ich den österreichischen Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer, der schon einige erfolgreiche Filme produziert hatte, wie zum Beispiel „We Feed The World“ oder „Let’s Make Money“. Beide Dokus waren international erfolgreich. Erwin Wagenhofer fand die Idee, mein Experiment zu verfilmen, zwar interessant, wusste aber nicht, was genau er dabei filmen sollte. Sprich: Was wäre die Form des Films? Wäre dann ständig jemand mit einer Kamera an meiner Seite gewesen? So etwas ist nicht finanzierbar. Oder wenn ich nun zum Beispiel in ein Geschäft gehe und nicht mit der Karte, sondern bar bezahle, dann müsste auch dieser Vorgang gefilmt werden. Dazu braucht man aber die Genehmigung von demjenigen, der hinter der Kasse sitzt und die des jeweiligen Geschäftsführers. In dem Moment, in dem die wissen, dass eine Kamera kommt, reagieren sie natürlich anders als in einer Alltagssituation. Die formelle Aufmachung des Film war uns unklar, weshalb ich die Idee mit dem Dokumentarfilm wieder verwarf.
Ich dachte mir dann: „Ich mache es einfach selbst und beginne mit einem Videotagebuch.“ Seither spreche ich einfach in eine Kamera, erzähle über meinen Fortschritt und von meinen Erkenntnissen, berichte von Erlebnissen, die ich im Rahmen meines Experiments hatte. Mein Videotagebuch kann man im Internet unter www.gueltigestimme.at verfolgen. Am 22. Dezember 2012 stellte ich dort die erste Information als eine Art Vorwort ein – das warder Tag nach dem laut Mayakalender wieder einmal prophezeiten Weltuntergang. Manche hatten auch einen globalen „Bewusstseinswandel“ erwartet. Beides ist – kaum überraschenderweise – nicht eingetreten. Am 2. Januar startete mein Experiment mit dem ersten Videotagebucheintrag. In meiner Lebenssituation ist ein solches Vorhaben nicht besonders mutig. Wirklich mutig wäre es, wenn jemand, der zum Beispiel sein Mobiltelefon tatsächlich beruflich benötigt, beinhart sagt: „Wisst ihr was? Ab sofort könnt ihr mich am Handy nicht mehr erreichen, auch der Chef nicht.“ Oder: „Ich bin nur mehr zu gewissen Zeiten erreichbar.“ Das wäre mutig, wäre aber möglicherweise das Ende der Karriere.
Es geht mir aber nicht darum, andere zu missionieren und zu überzeugen. Mein Anliegen ist es, den zahlreichen Menschen, die sich auf einem ähnlichen Weg wie ich befinden und denen es um Reduktion oder um das Herunterschrauben ihrer Ansprüche geht, Mut
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