Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
einzige Alternative, stehenzubleiben, dem Löwen in die Augen zu blicken und zu kämpfen. Vor etwas davonzulaufen, das schneller ist als du, ist eine ganz schlechte Strategie. Wir sollten den Löwen dorthin bringen, wo er nicht schneller sein kann als wir, wo erdieselben Nachteile hat. Wir müssen auf einen Baum flüchten oder ins Wasser. Schnell laufen alleine nützt uns nichts.
Schnell zu laufen hat nur Sinn, wenn man ein Ziel hat. Das Ziel ist in unserer beschleunigten Gesellschaft aber nicht das Entscheidende, glaube ich. Es geht nur mehr um das Schnellsein an sich. Wir haben offenbar kein Ziel: Wenn ich mir ein Handy kaufe, damit ich schneller mit jemandem kommunizieren kann, habe ich ja kein Ziel. „Ich will schnell kommunizieren“ – das ist kein wirkliches Ziel, sondern in meinen Augen eine ziemlich dämliche Motivation. Die Sache ist aber komplex, denn ein Mobiltelefon ist im Grunde mehr als ein bloßes Kommunikationsmittel. Es ist heute wie ein eigenes Wesen, ein treuer Freund, ein Begleiter und ein Statussymbol ist es sowieso. Es hat seine eigene Energie, einen Zauber, etwas beinahe Magisches und ist mittlerweile ein Teil von uns, fast wie ein Herzschrittmacher, von dem man abhängig ist. Das Ding ist so komplex, dass es verschleiert, was es ist, nämlich schlicht und einfach ein Werkzeug. Man besitzt ein Mobiltelefon, ohne wirklich zu wissen, was man damit machen will. Es geht darum, es zu haben .
Wenn ich mir in einem Werkzeugladen eine Schaufel und einen Spaten kaufe, dann habe ich ein klares Ziel: Ich will ein Loch graben, sonst bräuchte ich keine Schaufel und keinen Spaten. Das heißt, die Schaufel und der Spaten werden erst zu Schaufel und Spaten, wenn ich das Loch grabe. Ansonsten sind sie sinnlos und es gibt nichts Dümmeres, als sich eine Schaufel und einen Spaten zu kaufen und in den Schuppen zu hängen, einfach nur, um Schaufel und Spaten zu besitzen oder um dann drei Wochen später die nächste Schaufel zu kaufen: „Jetzt gibt es eine neue Schaufel, die einen Kunststoffgriff anstatt eines Holzgriffs hat. Die kaufe ich jetzt und die hänge ich dann wieder in meinen Schuppen.“ Schaufeln zu kaufen und nie ein Loch zu graben ist Unsinn.
Wir umgeben uns mit zahlreichen „Schaufeln“, die dann irgendwo herumhängen, die uns Zeit kosten, die aber nie einem Zweck dienen, weil wir sie eigentlich nicht verwenden. Ich könnte mir einen neuen Fernseher kaufen, ein HD- oder Full-HD-Gerät oder einen Plasmafernseher mit noch knackigerem Bild. Obwohl: Ein alter Röhrenfernseher hat auch ein gutes Bild, das völlig ausreicht. Aber auch das beste Bild und der beste Ton ändern nichts an der Qualität des TV-Programms. Das wird dadurch auch nicht besser. Ich bräuchte einen Fernseher, wo ich aufdrehe, und ich sehe nur noch interessante Sendungen, die mir wirklich dienen und die Sinn ergeben. Das bräuchte ich, kann es aber nirgends kaufen.
Den einzigen Sinn, den all diese sinnlosen Werkzeuge haben, ist der, dass sie der Wirtschaft dienen, sinnentleerte Arbeitsplätze schaffen und dass jemand Geld mit ihnen verdient – manche mehr Geld und manche weniger . Diejenigen, die dabei die eigentliche Arbeit leisten, verdienen in der Regel weniger. „Geldverdienen ist an sich doch nichts Schlechtes, denn wir alle müssen von etwas leben.“ Genau das ist der Punkt. Es stellt sich nur die Frage: Arbeiten wir, um zu leben, oder leben wir mittlerweile, um zu arbeiten?
Nicht das Geld hat uns zu Sklaven gemacht, sondern wir haben uns selbst zu Sklaven des Geldes degradiert.
Clemens G. Arvay: Das bedeutet, wir sind offensichtlich gar nicht so ohnmächtig, sondern jeder von uns hängt da bis zu einem gewissen Grad mit drinnen. Wir geben jeden Tag unser Okay zu diesem System, so wie es derzeit funktioniert. Wir sind nicht ohnmächtig, sondern wir haben eine „gültige Stimme“ – offensichtlich.
Roland Düringer: Ob unsere Stimme gültig ist, entscheiden zum Teil leider andere … bei Wahlen zum Beispiel. (lacht) Aber ich habe eine Stimme, ich habe jederzeit die Möglichkeit, Entscheidungenzu treffen. Als ich über mein derzeitiges Experiment nachdachte, fiel mir sofort der Name dazu ein, nämlich „Gültige Stimme“. Natürlich: Bloß, weil ich kein Mobiltelefon mehr benutze, nicht mehr mit dem Auto fahre, nicht in Supermärkte gehe, und so weiter, ist das noch keine gültige Stimme im Sinne einer politischen Wahl. Mit „Stimme“ meine ich die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Das ist meine
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