Lebe deine eigene Melodie
wieder waren wir so eigenmächtig und selbstherrlich: Das schaffe ich!
Später, als wir unsere eigenen Spielsachen kaufen konnten und die ersten Spaghetti-Orgien hinter uns hatten, verblasste
der Glanz dieser kleinen Ekstasen allmählich. Der erste Kuss, die erste Zigarette waren zwar aufregend, aber nicht frei von Ungeschicklichkeit und Unsicherheit, und irgendwann gewöhnte man sich auch an diese kleinen Extrafreuden. Die Prepaid-Karte für das Handy musste bezahlt werden, das Kino und das Schwimmbad kosteten Eintrittsgeld, und morgens mussten wir früh aus den Federn, um rechtzeitig in der Schule anzukommen. Die erste Menstruation war oberpeinlich, und die erste Aufforderung zum Tanz gepaart mit der Angst übrig zu bleiben, ganz zu schweigen von den ersten linkischen Liebesversuchen und dem heiß ersehnten Führerschein, der die gewonnene Macht rasch schrumpfen ließ, nachdem wir in der Stauherde stundenlang festsaßen.
Den ersten Kuss vergessen wir nie, aber die zehnte oder zwanzigste Pizza haben wir meist bald wieder vergessen. Je routinierter wir den Alltag erleben, meinte der Psychologe William James, desto weniger aktiv nehmen wir die Zeit wahr, weil vieles im Unterbewusstsein geschieht, und als Folge davon, erscheint die Zeit immer kürzer als in jungen Jahren, wo es so vieles zu entdecken, zu erforschen und zu erobern gab. Was wir fast automatisch tun, hinterlässt kaum Spuren in unserer Zeitwahrnehmung. Oder erinnern Sie sich noch daran, wie Sie neulich einkaufen gingen?
Der Philosoph Paul Janet vermutete, dass die scheinbare Länge eines Zeitraumes im Leben eines Menschen im Verhältnis zur Gesamtlänge des Lebens besteht. So erlebt demnach ein sechsjähriges Kind ein Jahr als ein Sechstel seines Lebens, eine Sechzigjährige nur als ein Sechzigstel. Und weil mit den Jahren alles irgendwie vertraut und gewohnt ist und kaum noch Neues geschieht, gibt es auch wenig, woran man sich gern erinnert. Die endlosen Weihnachtsferien der Kindheit sind kaum noch vorstellbar, was gab es da an Aufregendem,
das Kerzenlicht, die Geschenke, die Lieder? Später hingegen hat man das Gefühl, die Weihnachtsgeschenke sind gerade ausgepackt, schon kommt wieder Ostern.
Um Einsteins Relativitätstheorie heranzuziehen, könnte man schlicht sagen: Bewegte Uhren gehen langsamer als ruhende Uhren. Die Zeit vergeht langsamer für den, der etwas Spannendes liest, als für den, der auf dem Sofa fernsieht. Je weniger Ereignisse ein Menschen bewusst erlebt, desto schneller vergeht die Zeit. Ein Kind, das zum ersten Mal ein Wespennest entdeckt oder sich über ein Gewitter freut, nimmt diese Ereignisse ganz bewusst war, während jemand, der schon viele Hunderte von Gewittern erlebt hat, diese kaum mehr so bewusst wahrnimmt.
Könnte es sein, dass die kindliche Glückseligkeit nicht mehr gelingt, weil die Gefühlsintensität in unserem Leben keinen Raum mehr bekommt? Gefühle brauchen Zeit. Trotz aller zeitsparender Technologie haben wir aber anscheinend immer weniger Zeit. Ist es das Konsumieren, die Sucht nach Zerstreuung, die Fülle an Informationen und Kommunikationsangeboten? Ich glaube, es sind vor allem soziale Gründe, die uns unter Druck setzen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist unsere E-Mail-Kommunikation. Warum schreiben wir so viel mehr E-Mails als wir früher Briefe geschrieben haben? Die Technologie ist vorhanden, aber sie zwingt uns ja nicht. Schwingt da nicht etwas mit von der verheißungsvollen Aura Merkurs, dem Botschafter der Götter im Olymp? Nicht jede E-Mail macht Freude, aber man weiß ja nie, ob nicht heute eine Botschaft dabei sein könnte, die neue Tore öffnet. Liebe, Geld, Urlaub, Glück. Wir brauchen wohl diese täglichen kleinen Zuwendungen, die ein wenig Spannung in das Einerlei bringen. Oft wissen wir nicht einmal, was wir erwarten. Aber wir wissen: Wenn es kommt, dann kommt es per E-Mail. Wenn uns schon niemand mehr einen Liebesbrief
schreibt, dann öffnen wir eben unsere Mails. Man weiß ja nie.
Hinzu kommt, dass wir es sind, die sich unter Druck setzen lassen in einer Welt, die insgesamt immer rasanter wird. Es scheint, als leben wir alle unter Anpassungsdruck, den wir derart verinnerlicht haben, dass wir ihn kaum noch realisieren. Als Organistin beobachte ich ebenfalls, dass das Aufführungstempo musikalischer Werke sich enorm gesteigert hat. Theaterleute bestätigen es, Journalisten ohnehin. Wenn alle rennen, dann rennen wir eben mit, um einigermaßen mitzuhalten.
Man braucht nur ein paar
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