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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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transparenter und konzentrierter. Man gewinnt mehr Überblick, Durchblick und Weitblick. Der Blick auf größere Einheiten der Welt wird möglich, allmählich sieht man nicht nur das eigene Leben, sondern auch darüber hinaus. Man sieht mehr das Ganze des Lebens. Bei Alterswerken bedeutender Maler, ich denke an die Spätwerke von Tizian, Rembrandt, Goya oder Picasso, ist das deutlich zu sehen, sie sind zugleich transparenter und konzentrierter, das Wesentliche kommt prägnanter und klarer zum Ausdruck. »Alt werden heißt sehend werden«, sagte Marie von Ebner-Eschenbach. Für viele mag die Bedeutung darin liegen, zu sehen, was sie nicht mehr sein können oder sein werden. Wesentlicher erscheint mir, hinzuschauen, was man noch nicht ist, was noch werden kann. Von da aus lohnt es sich, mehr als einen Blick zu riskieren und zwar in sämtliche Richtungen.
    Wenn das Älterwerden manches fortnimmt, so entstehen Leerräume. Man kann sie mit süßem Nichtstun vertreiben oder im Kampf gegen die Langeweile totschlagen. Beides funktioniert auf Dauer nicht und mündet in Resignation und Lethargie. Oder man deutet den Leerraum um in geschenkte Zeit, die einem neue Freiräume eröffnet. Freiräume für nunmehr ungestörte Kreativität, für das, was einem am Herzen liegt und nicht vom Nutzen und Zeitdruck diktiert ist. Was dabei entsteht, ist schlicht: Lust, Schaffenslust, Lebenslust, neue alte Lust.
    Öfter merke ich, dass ich jetzt genauer hinschaue als früher, dass ich in Gesichtern mehr und anderes lese, anders hinhöre und dahinter höre, spüriger in Händen lese, die sich mir entgegenstrecken. Das Leben spricht neu zu uns. Wir sehen
und hören anders, weil wir nicht mehr so besetzt sind vom eigenen Gedanken- und Leistungskarussell. Wir sind innerlich unabhängiger geworden, weil wir mehr in uns selbst ruhen. Die Welt ist nicht mehr eine zu erkletternde Leiter, sondern bekommt Farbe, Weite und Tiefe. In einer Kurzformel könnte man es fassen: Man wird einfacher, gefestigter, offener, wärmer, wesentlicher. Der Schraubstock jugendlicher Selbstbezogenheit öffnet sich um mehrere Drehungen und befreit uns zur Öffnung für das Wesentliche. Heute gelingt es eher, das Wichtige wichtig zu nehmen, wissend, dass nichts mehr selbstverständlich ist. Selektiv statt beliebig leben. Alles verliert den Charakter der Vorläufigkeit. Das steigert, wie der Liedermacher Christof Stählin meinte, die Intensität der Erlebnisse und wirkt weiter in der Erinnerung. Die Welt ist nicht mehr Bühne für eigene innere Konflikte, Sehnsüchte und Tragödien, sondern eine Welt, die sich uns offenbart. Immer wieder ertappe ich mich, wie ich einfach nur schaue und lausche. Der morgendliche Gesang der Vögel, die Grillen über dem Teich, die Wachteln, die beim Schlafen ihre Köpfe zusammenstecken, der Sommerregen, dem sich die Pflanzen durstig entgegenrecken, die Sterne, die vor dem dunklen Himmel aufblühen. Nichts schiebt sich mehr dazwischen, die Erscheinungen sprechen zu mir.
    Wie ist es mit dem sozialen Druck? Wer nicht mitrennt, bleibt allein übrig? Gerade das empfinde ich zuweilen als höchst genussvoll. Es ist seliger, heute staunend zu erleben denn irgendwann später einmal, wenn man meint, endlich Zeit zu haben. Vielleicht sind es jene schöpferischen Momente, die wirklich zählen, denn sie machen auf andere Art wirklich zugehörig. Sind diese Listen, diese abgehakten Termine, Telefonate nicht letztlich Beiwerk?
    Ich müsse schon auch mal mit der Zeit gehen, meinte ein junger Mann zu mir, als ich ihm gestand, dass ich keine Facebook-Freunde
habe, sondern ein paar enge Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich von Angesicht zu Angesicht austausche, für die ich mir Zeit nehme für Gespräche, Mahlzeiten und Spaziergänge. Er fand es altmodisch und »uncool«, dass ich nicht für jeden jederzeit und überall zu haben sei, und schwärmte von seinen unzähligen Freunden, die er »kenne«. Ich verkniff mir, ihm das Wort »kennen« unter die Nase zu reiben. Soll er selbst schlau werden, mir genügte meine Genugtuung über mein energisches Innehalten. Ist doch schön, Zeit für Strandspaziergänge zu haben, für Briefe, ob als Strompost oder auf Papier, für ausgedehnte Abendessen, spannende Gespräche und wunschloses Innehalten.
    Man muss nicht mehr so tun, als ob, und überall mitmachen. Am liebsten würde ich das Wort »müssen« aus dem Vokabular streichen. Älterwerden hat das Recht auf Transformation. Eine ehemalige Stadträtin, die nicht zu

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