Lebe deine eigene Melodie
Momente eines typischen Arbeitsalltags herauszugreifen, um zu sehen, wie wir sozusagen rund um die Uhr Opfer und Täter dieses Anpassungsdruckes sind: Sie kommen abends heim und finden Ihren Briefkasten vollgestopft mit Werbung und Sonderangeboten, mit Katalogen von Versandhäusern, Ankündigungen lokaler Ereignisse, Rechnungen, Strafzettel und vielleicht sogar einem Brief. Sie kommen von einer kurzen Reise heim und finden ihren Anrufbeantworter voller Nachrichten von Menschen, die auf Ihren Rückruf warten. Sie verbringen ein Wochenende mit Freunden, und Ihre Faxmaschine oder E-Mail-Account erwartet Sie mit Botschaften, auf die Sie (möglichst rasch!) reagieren sollen. Sie sitzen im Zug und wollen gerade frühstücken, da klingelt Ihr Handy. Dies alles scheint alltäglich und kaum der Rede wert. Dennoch spiegelt es ein tiefgründiges Muster sozialen Wandels, das man mit der Kurzformel: »Verteilungskampf um Beachtung« charakterisieren könnte. Von überall her ruft es: »Beachte mich!« Kinder, Eltern, Freunde, Kollegen, Partner und vor allem die Medien mit ihren Stars aus Kino, Mode, Wirtschaft, Kunst und Politik. Es macht deswegen keinen Sinn zu fordern, sich durch selbstgenügsame Autarkie, falsche Bescheidenheit
oder Verleugnung dem Tanz um Beachtung zu entziehen, will man nicht aus allen sozialen Bezügen herausfallen. Es ist schlicht unmöglich.
Das immer schnellere Tempo hat Auswirkungen auf unsere Erfahrungen. Wir tun zwar viel, erledigen viel, erleben viel, und ersäufen unsere Zeit in Hyperaktivität. Immer mehr erledigen wir Dinge, statt sie bewusst zu tun. Leider bleiben wir dabei so merkwürdig leer und gehetzt zurück, weil wir uns nicht mehr berühren lassen und uns kaum noch etwas wirklich zu eigen machen. Die einzige Abhilfe gegen das Versinken im schnellen Zeitstrom liegt erst einmal in der Erkenntnis: Gefühle brauchen Zeit. Deswegen ist Erfahrung nie das Produkt eines schnellen »Aha«. Sie erfordert eine besondere Haltung der Achtsamkeit, des Hinspürens und des Sich-Einlassens auf das, was ist. Haben Sie schon einmal während eines spannenden Films auf die Uhr geschaut? Ich nehme an: Nein. Wenn ja, würden Sie wahrscheinlich merken, was da alles noch nebenbei läuft und die Illusion wäre zunichte. Wirkliche Erfahrungen sind immer einfach. Also das Gegenteil von mehrfach. Der erste Schluck eines mundigen Weines beispielsweise. Da bleibt die Zeit für einen Augenblick stehen, weil wir berührt sind von diesem einzigen Ereignis. An solchen Minioffenbarungen kann man ablesen, wie das Leben prägnanter und einfacher werden kann. Ein Schluck ist köstlich, aber wenn man nebenbei noch liest, fernsieht oder telefoniert, das ist Stress pur.
Wenn wir die Zeit dehnen wollen, brauchen wir Zeiträume, die die Alltagsroutine unterbrechen. Einfach nur Musik hören, dem Vogelgesang lauschen, barfuss gehen, lesen, oder den Rücken massieren. Allerdings ist das wirkungsvoller, wie auch das Beten, wenn es jemand anderes für uns tut. Wir brauchen Fantasie, die uns auf neue Ideen bringt. Und Mut, aus dem Trott auszusteigen und Neues anzugehen.
Als Vorschlag, wie man der Zeit ein Schnippchen schlagen kann, schlug die israelische Professorin Dinah Avne-Babad vor: »Wir müssen uns Erfahrungen aussetzen und unser Leben ständig auf den Kopf stellen.« Oder, wie Marc Aurel, die Welt von oben oder von der Seite betrachten. Was gibt es Friedlicheres, als den Atem eines schlafenden Kindes zu spüren, dem Knacken und Knistern eines munteren Feuers zu lauschen oder dem Klang eines Windspiels zu folgen? Vielleicht geben uns solche Momente eine Ahnung von der »Zeit, die bleibt« (Giorgio Agamben 2006). Es lohnt sich zu leben, wenn ab und zu die Zeit einfach stehenbleibt. Da hilft eines: Die Welt mit Kinderaugen neu entdecken und sich überraschen lassen, wie sich plötzlich wieder Momente einstellen, wie früher die erste Ferienreise, die sich schier endlos dehnen.
Eigensinnig, eigenartig, einzigartig
Bei Hermann Hesse heißt es: »Die Tapferkeit stärkt, der Eigensinn macht Spaß, und die Geduld gibt Ruhe.« Immer wieder fällt mir dieser Satz ein. Statt Spaß würde ich lieber Freude sagen, weil ich dieses Wort für tiefsinniger halte, als dieses Jogginghosenwort »Spaß«, in das alles hineinpasst. In der Tat ist der Eigensinn die Würze des Älterwerdens. Wenn es so etwas wie eine Schlüsselqualifikation für diese Lebensetappe geben kann, so ist es der Eigensinn. Ich spreche nicht vom Eigensinn, der streitbar,
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