Lebe deine eigene Melodie
starrsinnig und besserwisserisch macht, er soll ja bekanntlich im Alter schärfere Konturen annehmen. Ich spreche vom gesunden Eigensinn, der mit Charme gepaart ist, der leichtfüßig und keck daherkommt. Er bringt frischen Wind in die Gespräche und lebt vom Selberdenken. Er verführt uns, ausgetretene Pfade zu verlassen, neue Wege, Umwege und Abwege zu wagen. Eigensinn ist die Kunst, die kreative Menschen auszeichnet. Wer nicht wenigstens eine merkwürdige, schrullige Eigenheit hat, der sei der Sympathie nicht würdig, so äußerte sich einst der britische Premier Disraeli. Wenn wir aufgeben, danach zu schielen, was die anderen wohl von uns erwarten, erfahren wir, wer, wie wir sind und wer wirklich zu uns gehört. Eine Frau, die sich regelmäßig mit ihren Freundinnen trifft, beschreibt es so: »Meine Freundinnen haben alle ihre eigenen Macken. Aber wahrscheinlich denken die das auch von mir. Aber was mir wichtiger ist, ist diese wohlige Vertrautheit, die wir haben. Wir brauchen uns nicht bemühen, dass ein Gespräch in Gang kommt, wir können einfach immer weiterreden. Eigentlich ähnlich wie bei Geschwistern. Und vor allem: Wir lachen viel, lange und laut.«
Zum gelingenden Älterwerden gehört schlicht dazu, dass wir nicht mehr verhaftet sind in Bildern, wie wir sein sollten, wie wir glauben, sein zu müssen, um akzeptiert zu sein. »Ich habe mich noch nie so frei gefühlt wie jetzt«, sagt eine 68-Jährige. Ein Beispiel? »Wenn ich spazieren gehe, singe oder pfeife ich einfach vor mich hin, wenn es mir danach ist. Und ich laufe in ausgeleierten Klamotten herum, die ich früher nicht mal nachts getragen hätte. Mir ist schlicht egal, was die anderen denken, weil ich mich auch herausbrezeln kann, wenn ich Lust darauf habe.« Was ich daraus lese: Eigensinn hat damit zu tun, dass wir anknüpfen an unserem Wesen, an unserer Wahrnehmung, am Gefühl für den eigenen Wert, für die eigene Würde – so wie Kinder es leben, bevor sie testen, wem und wie sie es recht machen können.
»Frei zu sein, heißt eigenwillig zu sein«, schreibt der Autor Peter Bieri. Muss man also ein Querkopf sein, um gut zu altern? Das klingt nicht sehr entspannt, es könnte den Blutdruck in ungesunde Höhen treiben. Man muss ein Händchen dafür haben zu unterscheiden, was einem von außen aufgezwungen wird und dem, was die eigene Person und Einzigartigkeit ausdrücken will. Das geschieht eher unspektakulär, behutsam, tastend, Schritt für Schritt. Eigensinn heißt anknüpfen an die Kraft, die in uns steckt, die im Verborgenen wirkt, in einer Haltung, die sich nicht verschlossen, misstrauisch, sondern entspannt, offen, selbstkritisch und leidenschaftlich entfaltet. Zu spüren, was für mich selbst gültig ist, dazu braucht es Zeit, Selbstvergessenheit, Hingabe. Es will erahnt, erhascht und erobert werden, wie das Glück, das wir auch nie ganz in den Griff bekommen. Eine Musikerin drückt es so aus: »Bisher habe ich mein Instrument durch unendlich viel Üben beherrschen gelernt. Jetzt beginne ich meine eigenen Improvisationen und Kompositionen
zu spielen, weil ich endlich die Musikerin in mir entdecken will, die ich wirklich bin.«
Selbsterkenntnis heißt nicht, dass man einfach nach innen blickt und dort Antworten erhält. Eine solche direkte Innenschau gibt es nicht. Es braucht Umwege, über die wir zu Antworten kommen. Indem wir uns von außen betrachten und aussprechen, fantasieren, malen oder aufschreiben, was uns bewegt. Was wir in Worte und Ausdruck fassen, tritt uns von außen entgegen und wird dadurch bearbeitbar, formbar, überprüfbar. Es braucht Mut, den eigenen Sinnen zu trauen, und nicht irgendwelchen Gurus; dem eigenen Denken zu vertrauen, statt irgendwelchen Klischees zu folgen; eine gewisse Aufmüpfigkeit, die einen bewahrt, jede Mode mitzumachen; Furchtlosigkeit, um vor Widersprüchen nicht zurückzuschrecken; und Begeisterung, um sich zu engagieren für das, was Sinn macht.
Die alten Chassidim brachten es auf den Punkt: Am Ende der Zeit wird Gott nicht fragen, warum du nicht Moses geworden bist. Er wird dich fragen: Warum bist du nicht du selbst geworden? Man selbst werden, heißt nicht auf Erlösung hoffen, ständig neuen Bildungsansprüchen oder Political Correctness zu gehorchen, sondern zu leben: »Ich bin, die ich bin.« Ich bin frei zu tun, zu lesen, zu sehen, zu hören, was zu mir gehört. Eigensinn – Utopie einer Einheit mit sich selbst?
Neue alte Lust
Älterwerden weitet den Blick. Man sieht zugleich
Weitere Kostenlose Bücher