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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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geworden und übernehmen nun selbst das Ruder unseres Lebens. Befreit von den Überzeugungen und Annahmen, die Eltern, Lehrer, Erzieher oder Freunde einem eingepflanzt haben, widmen wir uns eigenen Aufgaben. Schöpfertum ist keine auferlegte Arbeit mehr, sondern frei gewählt. Wir erobern uns »unsere« Vorstellungen, Ziele, Träume und Pläne zurück und treten ein in den Zeitraum der Unabhängigkeit, vergleichbar mit der Zeit um 21 Jahren, als wir unsere Unabhängigkeit von den Eltern als Erwachsene erreichten. Nun führt die Entwicklung von mehr körperlichen Qualitäten zu geistigeren, von äußeren Aspekten mehr zu inneren. Interessant ist, dass 66 Prozent der größten Leistungen berühmter Persönlichkeiten – Staatsmänner, Maler, Dichter, Schriftsteller – von Menschen über 60 vollbracht wurden. Auch aus der Geschichte wissen wir, dass ein Römer, der in den Senat gewählt werden wollte, das sechzigste Lebensjahr erreicht haben musste. Und ein östliches Sprichwort schlägt scherzhaft vor, ein Dorf solle sich Ältere kaufen, um ein gesundes geistiges Klima zu schaffen.
    Mit dieser neuen Freiheit umzugehen, ist Lebenskunst, die uns abverlangt wird. Entweder man geht weiter, bildet neue Gewohnheiten, realisiert alte Träume oder Pläne, entwickelt neues Interesse am Lernen, kultiviert vernachlässigte Fähigkeiten, oder man erschreckt vor den Herausforderungen und begibt sich auf einen regressiven Weg, will nur noch seine Ruhe haben, sich einigeln, resignieren. Stehenbleiben oder stillstehen ist nicht möglich. Freie Menschen können und wollen nicht stehenbleiben, wo man sie hinstellt.
Das Ehepaar O’Neil, beide der Anthroposophie zugetan, sprechen von den »freien Jahren« – die früher eher die Ausnahme und heute fast zur Norm werden –, die erneuerte Kreativität und Glanz verleihen, oder eben aus Angst vor der Freiheit, in Sturheit und Negativität, Verhärtung oder Streitsucht münden. C. G. Jung, der sich mit der Psychologie der Altersstufen befasste, spricht in diesem Zusammenhang vom Phänomen der »Remanenz«, des Hinter-sich-Zurückbleibens. Er meint die Menschen, die ständig zurückschauen und sich an die Vergangenheit klammern, die sich dem Lebensprozess psychisch entziehen und als »Erinnerungssalzsäule« stehenbleiben, die zwar ständig alte Geschichten auftischen, aber kein lebendiges Verhältnis zur Gegenwart mehr haben. Der springende Punkt für Jung ist der Auftrag, nicht hinter sich zurückzubleiben, weil es gesünder ist, mit der Zeit vorwärts zu gehen.
    Vorwärts gehen bedeutet in dieser Lebensphase, das eigene Weltbild neu zu ordnen. Waren wir früher von eingepflanzten Überzeugungen geleitet, so gewinnt nun die Freiheit der eigenen Entscheidung Priorität. Man entscheidet selbst, wie der Kurs nun weitergeht, was neu wird, was jetzt wachsen, was anders werden soll. Das ist nicht einfach, denn das Bild der Älter-Werdenden ist immer noch behaftet mit Vorurteilen, Voreingenommenheiten, Verboten, die uns an den gesellschaftlichen Rand oder ins gemütliche Abseits stellen wollen. Dieses Allerweltswissen ist nicht leicht zu vertreiben, zumal es auch irgendwie noch in uns selbst als Angst weiterwirkt. Sich verbieten zu lassen, lebendig, leidenschaftlich und beherzt zu leben, kann aber nicht mehr unsere Sache sein.
    Wenn ich an Verbotenes denke, so kommt mir das bekannte Märchen vom bösen Grafen Blaubart in den Sinn, der seiner Frau vor der Abreise den Schlüsselbund überreichte
und ihr großzügig gestattete, alle Türen zu öffnen und sich umzuschauen: »Nur diesen einen, den kleinsten der Schlüssel, den darfst du nicht benutzen. Vergiss das nicht!« Wahrscheinlich würde es Ihnen ähnlich gehen wie seiner Frau. Ihre Gedanken würden genau um diesen Schlüssel kreisen. Warum sollte ich eigentlich nicht? Was kann wohl dahinterstecken? Wird schon nicht so schlimm sein, oder? Vielleicht merkt er es ja nicht? Und wenn ich es versuche? Nein, lieber nicht! Wieso sollte ich mir Vorschriften machen lassen? Der kann reden, was er will, ich will selbst entscheiden.
    Diese inneren Dialoge könnte man endlos weiterspinnen, aber irgendwann siegt dann doch unsere Neugier. Wie kann man anders herausfinden, was dieser Schlüssel verbirgt, als ihn auszuprobieren?
    Schon von klein auf lernen wir, dass es Dinge gibt, die verboten sind, die man nicht tun darf. Kleinkinder reagieren auf diese Disziplinierungsversuche noch vehement mit Wutanfällen und Gekreische. Später in der Pubertät knallen

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