Lebe deine eigene Melodie
will. Nehmen wir den Wunsch: »Ich will versöhnt mit mir und den anderen älter werden«. Bei näherem Hinschauen
merkt man aber, dass man eigene unerwünschte Eigenschaften stets bei anderen beobachtet. Will ich wirklich in den Spiegel schauen, oder lebe ich nicht komfortabler, wenn ich den eigenen Balken im Auge ignoriere und lieber bei anderen nach Splittern suche? Selbstreflexion ist Schwerstarbeit, verlangt sie doch ein hohes Maß an Bewusstheit und Mut, sich mit den eigenen dunklen Seiten zu konfrontieren. Naheliegend wäre, seine Motive auszusprechen, aufzuschreiben oder einem Freund zu artikulieren, um sie sozusagen von außen zu betrachten, zu überprüfen und prägnanter zu machen. Erst wenn ich meine widersprüchlichen Wünsche ausspreche, kann ich einen Standpunkt entwickeln, von dem aus ich beurteilen kann: Was ist es, was mich in diese oder jene Richtung zieht? Ist es die Abneigung gegen Erwartungen, gegen Fremdbestimmung? Will ich Recht haben? Oder einfach nur den Wunsch haben, mich frei zu fühlen? Selbst zum Zuge zu kommen? Eine Klärung dieser Motive würde immerhin dazu beitragen, dass ich weiß, was mich bewegt, was meinen Willen antreibt. Dieses Verständnis zu erweitern, würde einen Raum für das Verstehen öffnen, um Sinn zu entdecken, wo vielleicht erst auf den zweiten Blick Sinn entsteht.
Entscheiden heißt fühlen
Einhergehend mit dieser neuen Freiheit gewinnt ein Wunsch die Oberhand: Ich möchte selbst entscheiden. Wir wollen nicht mehr ausgeliefert sein. Diese Lebensphase ist geradezu prädestiniert dafür, dass wir unabhängiger werden. Allein die Tatsache, dass wir rein statistisch gesehen noch eine Menge Lebenszeit vor uns haben – 60-jährige Frauen leben im Schnitt noch 24 Jahre, 60-jährige Männer noch 20 Jahre – hat weitreichende Auswirkungen. Unsere weitere Lebenserwartung umfasst also mittlerweile ungefähr ein Drittel unserer Lebenszeit. Das hat tiefgreifende Folgen. Die Zeit, die bleibt, wollen wir nicht als passiv zu verbringenden Ruhestand begreifen, sondern als aktiv zu gestaltenden Weg, der unserem Leben eigene Konturen und Prägnanz verleiht. Eine Freundin wurde von ihrem Arzt gefragt: »Fühlen Sie sich müde und ausgelaugt?« »Was für eine Frage«, schnaubte sie, »jeder fühlt sich mal müde, gleich wie alt er ist. Selbst meine Katze ist immer wieder erschöpft, wenn sie keine Mäuse gefangen hat.« Sie hatte es gründlich satt, dass selbst normale Gefühle pathologisiert oder als Syndrom etikettiert werden und gleich Rückschlüsse auf ein altersbedingtes Nachlassen geistiger Kapazitäten und Kompetenzen nahelegen. »Ich lasse mir nichts mehr gefallen, schon gar nicht, weil ich jetzt älter bin. Wer ist denn schon immer gut drauf? Vielleicht die Herren in Weiß, weil sie keine Zeit haben, irgendetwas zu fühlen. Wie bin ich froh, dass ich endlich sage, was ich denke!«
Wir sind weniger bereit uns anzupassen, unsere Einsichten, Erkenntnisse und Erfahrungen zurückzustellen. Nichts widerstrebt uns mehr, als wenn andere über uns entscheiden. Vielleicht weil man seine Berufs- und Erziehungsaufgaben
erfüllt hat und sich nun wagt, die Person zu sein, die man ist, und nicht diejenige, die man sein sollte. Eine Person, die sich vielleicht jahrelang zurückgestellt hat oder lange Zeit zu kurz kam. Eine Krankenschwester, die befürchtete, als psychisch auffällig zu gelten, beschrieb es drastisch: »Mich plagt der Gedanke, dass ich dreißig Jahre verplempert habe. Ich möchte mit 60 klüger sein als meine Kolleginnen, die immer noch nicht kapiert haben, worum es wirklich geht, wenn man jahrelang verheizt wird. Sie halten mich für verrückt, weil ich nicht mehr arbeite. Ich finde keine Zeit mehr dazu, weil ich endlich töpfern kann. Ich empfinde das Töpfern nicht als Arbeit, weil ich mit Leib und Seele darin aufgehe. Nun stimmt mein Maß: Ich bekomme genauso viel zurück, wie ich gebe. Es gibt niemanden mehr, der mich unter Druck setzen kann. Nun zählt endlich, was mein Herz will.«
Sie hat ihren Weg gefunden, aber sie ist nicht frei von Ängsten, was niemanden verwundert, denn unsere Mütter hatten noch andere Vorstellungen vom dritten Erwachsenenalter. Sie waren eher bereit, sich abzufinden oder »dreinzufinden«, Hauptsache man war zufrieden. Viele von ihnen hatten für alle anderen und für alles gesorgt, nur nicht für eines: für den eigenen Lebensinhalt. Als junge Alte stehen wir heute vor der Aufgabe, unser eigenes inneres Bild von der älter werdenden
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