Lebe deine eigene Melodie
Frau neu mit Leben zu füllen. Wir wollen keine kindischen Omis werden und uns nicht darauf berufen, uns nun ewig ausruhen zu müssen. Wir wollen selbstbewusst, anpassungsunwillig unsere eigenen Wege gehen und spüren, was für uns wesentlich ist. Weitaus mehr als Attraktivität und Fitness wollen wir unsere Neugierde und Offenheit bewahren, die uns den Blick für lebensvolle Erfahrungen ermöglicht und Überraschungen gestattet. Wir wollen selbst bestimmen, wie und was wir sein wollen. Aber
das ist letztlich nichts Neues, es ist ein Wunsch, der uns in die Wiege gelegt wurde.
Schon kleine Kinder, das zeigte ein Experiment mit Vierjährigen, reagieren auf diesen Wunsch, bevor sie ihn überhaupt aussprechen können. In diesem Experiment befestigte man Bänder an den Händen der Kinder, so dass sie durch das Ziehen der Bänder bewirken konnten, dass angenehme Musik gespielt wird. Als die Forscher später die Verbindung mit den Bändern unterbrachen und einfach willkürlich in unregelmäßigen Abständen Musik abspielen ließen, wurden die Kinder gereizt und traurig, obwohl sie genauso viel Musik hörten wie vorher, als sie die Bänder selbst bewegten. Die Kinder wollten also nicht nur Musik hören, sie hatten ein regelrechtes Verlangen danach, selbst zu entscheiden, wann sie Musik hören wollten. Der Wunsch, selbst zu entscheiden, ist demnach wichtiger als die Belohnung selbst.
Was ist Ihnen lieber, eine Belohnung passiv zu empfangen oder aktiv auszuwählen? Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Traumreise gewonnen. Essen vom Besten, Dienstpersonal rund um die Uhr, aufregende Unterhaltungsprogramme, Wellness-Angebote vom Feinsten. Die Sache hat nur einen Haken, Sie müssen im Hotel bleiben. Sie können nicht selbst entscheiden, wann Sie es verlassen. Wie würden Sie reagieren? Jedenfalls reagieren die meisten trotz der verführerischen Angebote mit Abwehr, weil sie selbst bestimmen möchten. Dieses Beispiel zeigt, dass der Wunsch, selbst zu entscheiden, tief in uns verankert ist. Sich ausgeliefert zu fühlen macht hilflos, ängstlich und auf Dauer depressiv. Ein literarisches Beispiel dafür ist Rilkes Gedicht »Der Panther«, der in der Gefangenschaft seines Käfigs unablässig Runden in immer enger werdenden Kreisen dreht und hinter den Gitterstäben keine Welt mehr wittert. Eine Patientin drückte ihre Verzweiflung aus, indem sie beschrieb, wie sie jeden
Morgen eine Kerbe in den Teppich lief, um sich bei diesem Hin-und-Herlaufen irgendwie zu spüren. Ob der Käfig real ist oder in der Vorstellung, macht keinen Unterschied. Wenn kein Entscheidungsspielraum mehr vorhanden ist und keine Aussicht auf Entkommen, dann verengt sich die Welt. Es bleibt nur noch der Schmerz der Aussichtslosigkeit.
Unser Alltag ist gespickt von »kleinen Gefängnissen«. Die täglichen kleinen Stressoren, die uns hilflos machen: der Stau, der verpasste Zug, die Flugverspätung, der Wecker, der verlegte Schlüssel, der Rohrbruch, der Termindruck, der PC, der den Geist aufgibt. Man sagt, der Teufel liegt im Detail. Es sind die kleinen Ärgernisse, »the daily hassles«, der Verlust an Kontrolle und Entscheidungsspielraum, die wir im Alter nicht mehr so leicht wegstecken. Weniger die großen, schwerwiegenden Stressfaktoren sind es, sondern diese kleinen, unaufhörlichen Enttäuschungen, die an unserer Seele zehren, mit den bekannten Folgen: Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Magenbeschwerden, Asthma, Kopfschmerzen und Depression. Warum? Weil wir selbst entscheiden und beurteilen wollen, weil wir die Kontrolle darüber haben wollen, was mit uns geschieht, und weil wir es hassen, ausgeliefert und hilflos zu sein.
Selbst bei schweren Erkrankungen oder Schicksalsschlägen beobachte ich immer wieder, wie Betroffene sich mental einen Entscheidungsspielraum schaffen. Die MS-Patientin, die sagt: »Ich weigere mich, an einen nächsten Schub zu denken«, die Krebspatientin: »Meinen Tumor hungere ich aus«, »Ich stelle mir vor, wie die Chemo meine Krebszellen zertrümmert«, oder wie eine andere sagte: »Auch diesen Stein werde ich wie Sisyphus den Berg hoch tragen.«
Diejenigen, die die andere Seite wählen und versuchen, so angepasst wie möglich zu leben, sich zu fügen und der Norm zu gehorchen, haben zwar gewisse Vorteile, weil sie
sich sozusagen aufsparen, nicht aussetzen und nicht anecken. Sie haben weniger Konflikte, aber ihr Leben ist reizlos in mehrfacher Hinsicht: Sie bringen sich um neue Erfahrungen, um Spielräume, die Bewegung in ihr
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