Lebe deine eigene Melodie
die Türen, gibt es erbitterte Kämpfe, rattern die Mopeds oder trotziges Schweigen vergiftet das häusliche Klima. Und wenn man an die vielen Mythen und Geschichten denkt, die Erwachsene faszinieren, so geht es stets um Verstöße gegen irgendwelche Grenzen und Verbote. Man denke an Ikarus, der mit aller Macht der Sonne entgegenstrebte, bis seine wächsernen Schwingen schmolzen und er kläglich abstürzte. Oder an den Indianerjungen, der sich zum König der Adler aufschwingen wollte, dessen geborgtes Federkleid von einem Windstoß abgerissen wird und ihn zu Boden stürzen lässt.
Du darfst alle Früchte essen, nur die eine nicht. Ein Leitmotiv, das sich seit Adam und Eva in Varianten durch unzählige Legenden und Familiengeschichten zieht, die immer eines thematisieren: Reiz des Verbotenen, Ungehorsam, Widerstand, Subversion oder Rebellion. In der Psychologie
wird dieses Verhalten »Reaktanz« genannt. Das heißt, wir versuchen unsere Entscheidungsfreiheit wiederherzustellen, indem wir rebellieren, wenn unsere Freiheit eingeschränkt wird. Reaktanz ist ein Versuch, die bedrohte Freiheit wiederherzustellen. Sie äußert sich als gesteigerter Wunsch, genau das zu tun, was verhindert werden soll. Ein Beweis, wie grundlegend das Recht auf freie Willensentscheidungen für unser Wohlbefinden und unsere Würde ist. Jede Einschränkung von Freiheit hat Folgen für unser moralisches Empfinden. Wir wollen die Wahl haben und selbst entscheiden. Wir wollen uns nicht in die Fremdbestimmung begeben. Andere haben nicht zu bestimmen, was uns zusteht. Weder freiwillig noch unfreiwillig lassen wir unsere Freiheit beschränken. Warum müssen wir uns überhaupt verteidigen? Wir wissen selbst, dass wir Pausen brauchen, dass unser Körper uns Grenzen auferlegt und Zeiten der Beachtung, Zuwendung und Pflege braucht. Die Selbstverständlichkeit, mit der er früher Anstrengungen, Überforderungen oder Mängel auffing, lässt nach. Schlafmangel oder Exzesse lassen sich nicht mehr so einfach übergehen. Die Signale sind nicht mehr einfach zu kompensierende Schwächen, sondern Signale, die gehört werden wollen. Aber wir wollen selbst gestalten, was wir vom Leben erwarten und reagieren auf Fremdbestimmung mit Empörung, Entrüstung und Groll. Wir sehen uns als Menschen, die sogar negative Konsequenzen in Kauf nehmen, um die eigene Freiheit zu gestalten. Diese Reaktionsbildung ist ein Beweis, dass Wahlfreiheit nicht nur ein abstraktes Postulat ist, sondern etwas, das den Rang einer intuitiven Überzeugung besitzt. Wir wollen tun, was wir selbst wollen, auch wenn es sich als schlechte Wahl herausstellt. »Selber machen«, sagen die Kleinen, »ich lass mir nichts sagen«, die Jugendlichen, und »das möchte ich selbst beurteilen« die Älteren.
Fremdbestimmung hat einen gegenteiligen Effekt, sie provoziert das Verhalten, was verhindert werden soll. Auch wenn die Verbote einleuchtend und vernünftig erscheinen, solange wir das Gefühl haben, unsere Entscheidungen werden uns weggenommen, reagieren wir mit Widerstand, selbst wenn wir dadurch nachteilige oder unvernünftige Entscheidungen treffen. »Der Arzt hat mir verboten, Zucker zu essen«, so eines der alltäglichen Beispiele. Und wie reagiert die Patientin? »Seither esse ich heimlich mehr Schokolade denn je«. Oder ich denke an einen der zahlreichen Hamsterkäufe im Dreiländereck, als plötzlich eine Knappheit an Zucker medial lanciert wurde. Was machten die Leute? Sie kauften tonnenweise Zucker.
Auch wenn Reaktanz ein verständlicher Wunsch ist, die eigene Wahlfreiheit wieder zu etablieren, so vernebelt sie die Sicht, weil sie nicht von den Tatsachen ausgeht, sondern von der eigenen Wahrnehmung der Dinge. So bezahlen wir manchmal einen hohen Preis für unsere Freiheit der Entscheidung. Dabei denke ich an eine Frau, die angesichts der schrumpfenden Raucherräume meinte: »Seit ich nicht mehr frei rauchen darf, rauche ich mehr denn je.« Selbst Sigmund Freud wollte nicht mehr schreiben, als er zu krankheitshalber erzwungenen Rauchpausen gezwungen wurde. Es scheint wirklich, als würde man sein Recht auf freie Entscheidung nicht nur ein bisschen haben wollen. Man möchte ganz Recht haben.
Gibt es einen Weg aus diesem Dilemma? Im Wissen, dass es sich um ein Ideal handelt, dass man sich darum bemüht zu fragen: »Was will ich wirklich?«, kann man daran arbeiten, zu verstehen, wovon dieses Wollen gespeist ist. So einfach es klingt, es ist erstaunlich schwierig zu wissen, was man wirklich
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