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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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den Damen gehörte, denen die Frage nach dem Alter den Schweiß auf die Stirn trieb, hatte sich, wie sie sagte, jede Falte redlich verdient und auch nie bereut, was sie falsch gemacht hatte. Sie fand, sie sei so etwas wie eine Enzyklopädie und hätte fortan das Recht, sich zur Faulheit zu bekennen. Damit will ich nicht die lebensverneinende oder träge Faulheit propagieren, sondern zur Gelassenheit und Muße anregen. Muße bedeutete ursprünglich »Gelegenheit, etwas tun zu können«. Wir schaffen uns den Zeitraum dafür, nicht um faul oder rasch wieder fit zu sein, sondern um etwas zu tun, was unseren eigenen tiefen Bedürfnissen und Ideen entspricht – wahrnehmende, ungehemmte Kreativität, die vom Diktat der Nutzanwendung befreit ist. Sich einer freiwillig gewählten Tätigkeit hinzugeben, macht wach, weil man sich auf das einlässt, was man tut. Unabgelenkte Wahrnehmung ist das, was eine Lehrerin über die Felder streifen lässt, nicht um zu
ernten, sondern um sich treffen zu lassen von einem Stück Holz, einem Halm, einem Stein. Unscheinbare Dinge, die sie früher übersehen hätte, die bekommen nun einen Ehrenplatz in ihrer Wohnung.
    Anspruchsvoll und schöpferisch leben, statt fremdbestimmte Lifestyles und auferlegte Zwänge, das wäre eine Haltung, mit der man dem Älterwerden begegnen könnte. Nichts gegen das Glück von Handy, iPod, iBook, iMac und wie sie alle heißen. »Ich weiß zwar nicht, wozu ich sie brauche, aber haben will ich sie schon«, so die Reaktion einer Zeitgenossin. Pfiffiger klingt diese unbeirrbare alte Dame, die listig lächelnd meinte: »Ihr habt bestimmt recht, aber ich möchte mir selbst mein Urteil bilden.«

Dünnhäutigkeit
    Einerseits gibt es diesen feinen Schleier, der sich über die Dinge legt, die einen früher aufgeregt, aufgewühlt oder niedergeschmettert hätten, der einen heute etwas gelassener und toleranter macht. Aber auch die Kehrseite, die mitunter unangenehm sein kann: Nicht nur der Körper wird empfindlicher, auch die Psyche. Schöne Ereignisse steigern zwar immer noch die Lebensfreude, aber schlechte Erfahrungen, Spannungen, Missverständnisse stören sie weit mehr als gute Erfahrungen sie fördern könnten. Man wird dünnhäutiger, empfindlicher gegenüber Unstimmigkeiten, Spannungen und nimmt sich vieles mehr zu Herzen. Eine Frau sagt: »Seit ich über sechzig bin, genieße ich jeden Tag doppelt, der nach Plan verläuft. Allein die Erleichterung, wenn ich alles finde und nicht ewig meine Brille suchen muss, keine unangenehme Post, keine nervenden Anrufe, keine Warterei auf irgendeinen Handwerker. Obwohl ich das alles kenne, irritiert es mich heute viel mehr als früher.«
    Man möchte meinen, dass man mit den Jahren robuster, dickhäutiger wird, weil man ja einiges an leidvoller Erfahrung gesammelt hat. Paradoxerweise messen wir aber dem Negativen weit mehr Bedeutung zu, als wollten wir es im Grunde unseres Herzens nicht anerkennen. Manche nennen das Ausmaß unserer Missstimmungen »Weltschmerz«, der uns dünnhäutiger macht, andere führen es zurück auf die vielen Alterslügen, die die Einschränkungen des Alters schönlügen, um ein paar Buchtitel zu nennen: »Sechzig und topfit«, »Gut drauf älter werden«, »Mein Leben als Frau in den besten Jahren«, »Forever Young«. Ich beobachte eine Art unwirsche Gereiztheit gegenüber falschen Tönen und Gelangweiltheit gegenüber dem, was für Junge sensationell neu
sein mag, und für uns nach kaltem Kaffee schmeckt. Man wird ungeduldig, weil keine Zeit mehr zu verschwenden ist. Unduldsamer gegenüber Simplifizierungen, weil der Reichtum an Erfahrung einen gelehrt hat, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie sie scheinen; dass fast jede einfache Lösung neue Probleme nach sich zieht, und jede Antwort, die man mühsam gefunden hat, neue Fragen aufwirft.
    Älterwerden macht die Haut durchlässiger, nach innen wie nach außen. Trotz der wachsenden Erfahrung sind wir Älteren von den ständig neuen Verheißungen der Kommunikation und des vernetzten Interagierens überfordert, weil es zu viel von allem ist und immer mehr wird. Wir neigen dazu, die neumodischen Spielzeuge der Jungen als kulturellen Niedergang zu verachten und sehnen uns nach kommunikativen, emotionalen und intellektuellen Nischen, in denen wir uns aufgehoben und heimisch fühlen.
    Vielleicht ist unsere Dünnhäutigkeit gar nicht so unpraktisch, sondern ein wichtiger Aspekt einer zunehmenden Selektivität und Vertiefung und die ernstzunehmende

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