Lebe deine eigene Melodie
Leben bringen könnten. Und sie bleiben stets unterhalb ihrer selbst gesteckten Grenzen, weil sie dem Neuen keine Chance geben, als Korrektiv zu fungieren und das ignorieren, was ihre Abwehr durchbrechen könnte, indem sie in ihrer Komfortzone bleiben.
Ein Beispiel dafür ist die Geschichte einer Frau, deren Kinder aus dem Haus sind, die ihre Eltern bis zum Tod gepflegt hat und zwanghaft festhält an ihren eingeschliffenen Abläufen. Jeden Morgen um sieben Uhr aufstehen, dann einkaufen, Wohnung putzen. Mittags steht das Essen pünktlich auf dem Tisch, an dem sie häufig allein sitzt, weil ihr Mann beruflich schwer eingespannt ist. Am frühen Nachmittag gibt es Kaffee, dann wird der Fernseher eingeschaltet, von dem sie sich nur kurz trennt, um sich irgendein Häppchen zu holen, bis sie erschöpft auf dem Sofa einschläft. Das ist beileibe keine Ausnahme. Darin spiegelt sich die Geschichte von Frauen, die mit Pseudoaktivität dem nächsten Entwicklungsschritt ausweichen, die sich festhalten an einengenden Gewohnheiten und nur einen gangbaren Weg sehen: Weiter wie gehabt! Todsicher erstarrt so das Leben zur Alltagsroutine. Manchmal rächt sich der Körper, und es setzt dieses resignierende Kränkeln ein, die Flucht in die Sucht, die unerklärliche Krebserkrankung, das Erstarren im Übergewicht, die Mutation zur altersneutralen, stattlichen Matrone oder plötzlich einsetzendes Altern.
Entwicklungsanstöße schmerzen. Sich zu befreien aus dem Netz alter Identitäten und Rollen, braucht nach Meinung des Soziologen Martin Kohli »Bilanzierung«. Da wir kein Konzern sind, der allein Erfolg und Misserfolg verbucht,
würde ich diesen distanzierten Begriff lieber ersetzen durch Lebensrückblick, bei dem wir hinschauen, reflektieren und uns auseinandersetzen mit diesem Konglomerat aus verschiedenen Seelen in unserer Brust. In dieser Lebensetappe haben wir die Chance, Herausforderungen zu persönlichem Wachstum anzunehmen, die gewohnte Situation zu verlassen, und dem entgegenzugehen, was mehr Leben verspricht, was in unserem Inneren trotz Ablenkungsmanövern nicht mehr zum Schweigen zu bringen ist. Sich diesem zu verweigern hieße stehenbleiben, steckenbleiben. Irgendwann drückt das Anstehende gegen die Wand der Selbsttäuschungen und zwingt uns, sich mit dem auseinanderzusetzen, was man sich jahrelang zurechtgelegt hat. Jetzt ist die Zeit des Wissens. Sie will erahnt, erkämpft, ersehnt, erträumt, erspielt, erhascht werden, immer wieder neu.
Sich trennen und wiederfinden
Mit dem neuen Wissen um unser persönliches Wachstum verbunden ist die Erfahrung, dass manche Ziele, Pläne, Ambitionen nicht mehr zu realisieren sind. Andere verlieren ihren Anreiz, verblassen oder werden schlicht uninteressant. Das kann Gefühle auslösen, die an die Adoleszenz erinnern, bei der es auch um Gefühle des Sich-Trennens und Sich-Wiederfindens ging. Vieles muss neu definiert werden, Ziele und Ideale geraten auf den Prüfstand. Will ich so weiterleben? Habe ich den richtigen Partner gewählt? Die Aufgabe, die mir am Herzen liegt? Die passenden Freunde? Den angemessenen Wohnort? Die adäquate Freizeitgestaltung? Wir realisieren, dass jede Entscheidung andere im Rücken hat, gegen die wir uns entschieden haben. Früher Vernachlässigtes, Verdrängtes, Verkümmertes wird nach oben geschwemmt und verlangt nach Ausdruck. Ein neues Ausbalancieren des Lebens ist angesagt. Existenzielle Fragen melden sich, die beängstigen, aber auch befreien: »Wer schreibt eigentlich meine Lebensgeschichte – ich selbst, meine Familie, andere, oder eine namenlose Macht? Wie selbstbestimmt bin ich? Wie bin ich auf diesen Weg geraten? Wie komme ich auf den Weg, der mein eigener ist? Wer bin ich, abgesehen von meinen Rollen und Aufträgen? Was sind die Wünsche und Hoffnungen, die ich jetzt habe?«
Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann zu einem erneuten Gefühl der inneren Stimmigkeit führen. Die Entwicklungsaufgabe, die nun ansteht, hängt von der Fähigkeit zu entscheiden ab. Entscheiden hat mit scheiden zu tun. »Entscheiden für etwas« bedeutet immer auch »entscheiden gegen etwas«. Partei ergreifen für dieses oder jenes Ziel. Nicht ohne Grund spricht man davon, sich zu einem
Entschluss durchzuringen. Das ist anstrengend, weil es mit verzichten, verlieren und aufräumen verbunden ist. Es kann zwar befreiend sein, in eine offene Zukunft zu gehen, etwas loszulassen, etwas abzustoßen oder auf etwas zu verzichten. Aber zunächst einmal macht es Angst,
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