Lebe deine eigene Melodie
würde. Richtet man sich nach den statistisch fundierten Lebensregeln: Nicht rauchen! Nur mäßig Alkohol (bloß keinen Wodka!)! Nur zehn Minuten an die Sonne! Ernährungsratschläge befolgen (mindestens fünf pro Tag)! Vorsorgeappelle einhalten (mindestens einmal pro Jahr)! Sport treiben (aber nicht zuviel)! Aufs Land ziehen! Heiraten! – so macht man uns weiß –, können wir nicht nur ein paar Jahre mehr herausschlagen, sondern auch allerlei Risiken minimieren, wenn wir alles richtig machen.
Es scheint, als sei die Gesundheit das Maß aller Dinge. Nichts gegen eine maßvolle Lebensweise, aber nichts ist eben an sich schon so gut, dass es nicht auch seine Schattenseite hätte. Wie viel unbewusste Angst verbirgt sich hinter diesen Rezepten – gesund essen, richtig denken, genügend bewegen, pfundweise Antioxidantien, Fischölkapseln und Algen einwerfen? Wer kann da widersprechen? Dennoch geht mir diese Gesundheitsaktivität, die aus dem Gesundbleiben eine Vollzeitbeschäftigung macht, entschieden gegen den Strich. Dahinter steckt nämlich subtil, dass wir, wenn wir unserer Gesundheit Schmied seien, selbst schuld sind, wenn wir krank werden. Indem uns eine bestimmte Sichtweise verordnet wird, werden wir nicht mehr als Personen mit individuellen Bedürfnissen gesehen, sondern als Wesen, die ihre Lebenszeit unter vorgegebener Regie zu verlängern haben. Und das heißt eigentlich als Objekte, zu denen kein Verb mehr gehört, die behandelt werden.
Doch wo bleiben da Geist und Kreativität? Die wirklichen Lebenselixiere kann man nicht kaufen und nicht schlucken, denn sie hängen davon ab, ob wir das tun, was uns am Herzen liegt. Von Lichtenberg stammt der bemerkenswerte Satz: »Man muss etwas Neues machen, um Neues zu sehen.« Die Welt mit anderen Augen sehen, ausgetretene Pfade verlassen, sich auf eigensinnige Wege begeben – nichts belebt unseren Körper mehr, überflutet ihn mehr mit diesen gesunden Glückshormonen. »Ewig jung ist nur die Phantasie«, meinte Schiller. Und Erikson, der ein Programm psychischer Entwicklung beschrieb, sprach von »schöpferischer Fähigkeit gegen Stagnation«, die neue Energien freisetzt. Wie findet man sie?
Ich halte es mit dem von mir tief geschätzten Cellisten Pablo Casals, der im Alter von 97 Jahren den Satz prägte: »Man bleibt jung, solange man lieben und bewundern kann.« Ich würde den Begriff bewundern noch weiter fassen: solange man sich noch begeistern kann. Begeisterung, Enthusiasmus führt uns über uns selbst hinaus: Die sprachliche Wurzel ›en theos‹ weist auf das Göttliche hin, also das, was uns überschreitet, zugleich führt es zu unseren Wurzeln, denn das Geheimnis des Älterwerdens hängt entschieden damit zusammen, wie es uns gelingt, unser kindliches Denken zu bewahren. Die Lektion, die es uns schenkt, ist lebensverlängernd: die Wiedergewinnung der Passion für den Anfang, die Neugier, das Spiel, den Optimismus.
Abschiedlich leben geht weiter über das hinaus, was die so lobenswerte Gesundheitsprophylaxe propagiert. Abschiedlich leben beinhaltet beides: das Ausleben unserer kindlichen Passionen und Fantasien und das Einbeziehen dessen, was über uns hinausführt. Albert Einstein antwortete auf die Frage, wie er sich seine Entdeckungen erkläre, »weil ich immer das ewige Kind geblieben bin.«
Sich nicht einsortieren lassen
»Spielen Sie immer noch Konzerte?« »Was, Sie schwimmen immer noch täglich?« »Gehen Sie immer noch auf Reisen?« »Tragen Sie immer noch knallige Farben?« »Halten Sie immer noch keinen Mittagsschlaf?« »Haben Sie immer noch nicht zugenommen?« »Backen Sie immer noch Brot?« Man spürt die Absicht und ist verstimmt. Diese Verstimmung ist auch verständlich. Schlechte Fragen stören die Lebensfreude im Alter weit mehr, als gute Fragen sie steigern können. Gemeinsam ist nämlich all diesen mehr oder weniger wohlmeinenden Noch-Fragen, dass sie von irgendwelchen Abziehbildern, wie man wohl im Alter zu sein habe, ausgehen. Letztlich schwingt ja die Frage mit: Was, Sie leben immer noch? Gehören Sie immer noch nicht zum »alten Eisen«? Meist sind sie unbedacht, dumm oder betulich, aber sie wirken übergriffig. Vielleicht sind sie sogar einfühlsam gemeint, dann könnte man sie mit frecher Gelassenheit ignorieren, aber sie provozieren Protest. Soll ich mich in den Ohrensessel setzen und Topflappen häkeln? In den Wartestand begeben? Mich mundtot machen? Mich abschreiben? Jeder kann nur für sich selbst entscheiden, welche
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