Lebe deine eigene Melodie
weil wir nicht verlieren oder loslassen wollen. Loslassen wird oft gleichgesetzt mit verlieren. Diese »Verlust-Aversion«, die von den Psychologen Kahneman und Tversky erforscht wurde, hat mit unserem Unbewussten zu tun, das konservativ, das heißt auf Bewahren, Halten hin angelegt ist. Statt auf das zu schauen, was wir gewinnen könnten, konzentrieren wir uns auf das, was wir verlieren könnten. Da jede Entscheidung mit Verlusten einhergeht, werden wir, wenn wir zu sehr verlustorientiert denken, gelähmt, und bringen uns um das Potenzial, das im Weitergehen steckt. »Mein Leben wird total langweilig sein, wenn ich auf das Fernsehen verzichte«, »wenn ich loslasse, bekomme ich nicht das, was ich will«, »wenn ich auf meine Arbeitssucht verzichte, dann habe ich den ganzen Tag nichts zu tun«.
Unsere Abwehr gegen Verluste ist letztlich der Grund, weswegen wir wankelmütig und unentschlossen sind und uns das Heft durch äußere Ereignisse aus der Hand nehmen lassen. Sich von etwas zu trennen, heißt, sich dem Offenen zu stellen, anzunehmen, dass man vorübergehend im Leeren steht. Dass man sein Dasein neu zu orten hat. Dass man aufbrechen muss zu neuem Selbstverständnis und mitunter auch zu veränderten zwischenmenschlichen oder beruflichen Lebenswelten.
Unserer Entscheidungsfreiheit sind in zweierlei Hinsicht Grenzen gesetzt. Es geschieht nicht immer, was wir wollen – trotz aller Bemühungen um einen klaren, entschiedenen Standpunkt. Und es geschieht oft genug das, was wir gerade nicht wollen – trotz aller Absicherungen. Wir schreiben
unsere Lebensgeschichte nicht allein. Viele schreiben an ihr mit. Immer wieder tauchen neue Co-Autoren auf, die ohne Erlaubnis und Rücksprache mit uns, neue Szenen erfinden. Jeder kennt solche Geschichten, bei denen mit einem Mal eine andere Instanz Regie zu führen scheint. Das muss nicht immer Verlust, Krankheit, Kündigung, Katastrophe sein. Es kann auch eine außergewöhnliche Begegnung mit jemandem bedeuten, die dem eigenen Leben eine neue Wende gibt. Es können Sehnsüchte und Träume sein, die einen nicht mehr loslassen, Verrücktheiten, die das Leben auf den Kopf stellen, ein Magengeschwür, das einem neue Empfindungen schenkt, ein Satz in einem Buch, der einen wachrüttelt. Oder ein Kunstwerk, das einem unter die Haut geht und eine andere Richtung einschlagen lässt. Und es gibt die Momente im Leben, die wir mit besonderer Eindringlichkeit erleben: Momente, in denen wir schlagartig erwachen und eine Entscheidung treffen können, Sternstunden, die uns aus den Angeln heben, oder ein tiefes Erlebnis, das uns über unsere Grenzen hinausträgt.
Es gehört zur Erfahrung des Entscheidens, dass wir die Zukunft als offen erleben, so wie wir bei jedem Abschied ins Offene gehen. Auch wenn das Angst macht, so liegt doch die Kehrseite der Angst ganz nahe. Entscheidungen stärken unseren Mut, wer und wie wir selbst sein wollen. Denn Entscheidungen sind in erster Linie Erfahrungen, bei denen man die Grenzen seines Selbst erfährt.
Abschiedlich leben
Älterwerden heißt Abschied nehmen. Dieser Gedanke kommt von ganz allein. Manche unserer Gefährten begleiten uns nur ein Stück weit, manche Bindungen finden plötzlich ein Ende und uns dämmert, dass dies auch unser Schicksal sein wird. Andererseits wurde uns beigebracht, dass es im Leben immer weiter und aufwärts geht, und dass immer Neues zum Alten hinzukommt. Neue Freunde, neue Liebhaber, aufregende Interessen, neue Kleider, neue Reisen, überraschende Begegnungen. Und immer wieder haben wir Liebgewonnenes verloren. Jeder Abschied schwemmt die je erlebten mit nach oben. Und mit der Zeit füllen sich unsere Räume immer mehr mit Abwesenden, Verlorengegangenem, Vergeblichem. Der Garten, in dem wir Maikäfer eingefangen, der Teich, in dem wir Kaulquappen in Gläser eingesammelt haben, der Speicher, auf dem wir in alte Klamotten geschlüpft sind, der Liebhaber, der mit uns bis ans Ende der Welt reisen wollte, die Freundin, mit der wir bis zum Lebensende zusammenbleiben wollten, der Freund, der nie mehr von sich hören ließ und all die anderen, die sang- und klanglos verschwunden sind.
Der Abschied von den Eltern beginnt schon lange vor ihrem Tod, wenn wir zu realisieren beginnen, wie sie sich langsam verändern. Es ist ein schleichender Prozess, der Unerledigtes nach oben schwemmt, Gespräche und Klärungen nochmals nötig macht und eine graduelle Rollenumkehrung einleitet, bei der wir oft erstaunt entdecken, niemand nimmt uns
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