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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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mehr an die Hand. Nun sind wir von Beschützten zu Beschützern, von Gehorchenden zu Bestimmenden geworden. Oft geschieht das nicht reibungslos, da die Charaktere von Eltern und Kindern selten so perfekt zueinander passen, wie
beide es sich wünschen. Und spätestens dann, wenn Eltern sich zurückziehen in die Dämmerung des Altwerdens und Interesse an ihren erwachsenen Kindern verlieren oder am liebsten über ihre Krankheiten sprechen, fühlt man sich so merkwürdig allein, zunächst weil man merkt, dass sie nicht mehr beeindruckt sind, wenn man sich scheiden lässt, den Arbeitsplatz verliert oder von einer neuen Liebe aus den Angeln gehoben wird. »Ich bin für meine Mutter weniger interessant als ihr abendlicher Fernsehfilm«, so der Kommentar einer Tochter. Jedenfalls realisiert man jetzt, dass es eine Zeit gibt, in der die Eltern nicht mehr Eltern sein möchten, ihre Gedanken sind woanders, ihr Ruhebedürfnis nimmt überhand. Ihre Zeit, die ihnen für diese Freiheit noch bleibt, ist begrenzt. Sie freuen sich, wenn ihre Kinder kommen, aber auch, wenn sie wieder gehen.
    Die Begegnung mit dem Verlust an Geborgenheit zwingt dazu, eigenen Boden zu finden. Ohne Schutzschicht steht man nun »an der Front« und muss sich selbst fragen, wie sicher ist der Boden, der mich trägt, auf dem ich weitere Schritte machen kann? Manche realisieren vielleicht erstmalig oder endgültig, dass es auch ein Glück außerhalb der Familie mit Freunden oder sogenannten Wahlverwandten gibt. Allein schaffen wir es nicht. Auch wenn sie uns schon von klein auf begleitet haben, vielleicht begreifen wir jetzt, wie lebensnotwendig Freunde sind. Wir konsumieren das Vertrauen unserer Freunde oft über Jahre wie eine Selbstverständlichkeit und nun realisieren wir: Vertrauen ist zerbrechlich. Vertrauen braucht Pflege und Schutz. Wer es strapaziert, lebt gefährlich. Man muss behutsam und achtsam sein, denn Geborgenheit ist eine zarte Pflanze und der Verlust an Freunden wiegt schwerer, wenn wir älter werden.
    Auch wenn Abschiedsschmerzen sich mit der Zeit mildern, und man sich über die Jahre allmählich mit Verlusten
vertraut gemacht oder zumindest sich daran gewöhnt hat, dass Verluste auch einen selbst treffen, so verlieren wir nie restlos die Stimme dieses vierjährigen Kindes in uns, das aber auch gar nichts und niemanden verlieren will. Irgendwann realisieren wir mit Wehmut die harte Tatsache: Im Laufe des Lebens verlieren wir alles. Unsere Partner, Geliebten, Eltern, Geschwister, Freunde, Besitztümer, Vorlieben, unsere Egos, unseren Körper. Alles! Es ist nur eine Frage der Zeit. Es kommt früher oder später. Auf die eine oder auf die andere Art. Entweder überraschend, schnell oder über eine längere Zeitspanne. Wir behalten nichts. Im Alltag übersehen oder verleugnen wir diese Tatsache, oder wir hoffen und glauben: »Mich trifft es nicht!« Das ist menschlich und verständlich. Würden wir ständig darüber grübeln, dass Leben Abschied nehmen heißt, wären wir wahrscheinlich handlungsunfähig. Schlimm genug, wenn wir Zeugen fremden Schicksals werden. Aber die Unberechenbarkeit des Lebens für sich selbst zu akzeptieren, fällt uns allen schwer. Deswegen halten wir solche Gedanken auf sichere Distanz. »Sie«, »die anderen« verlieren, scheiden, sterben. Und wir selbst?
    Abschiedlich leben bedeutet zunächst einmal, die Tatsache anzuerkennen: Wir sterben, weil wir geboren wurden. »Bedenke, dass du sterblich bist« – diese Mahnung war ein wichtiger Bestandteil der Askesebewegung in den Klöstern des Hochmittelalters. Soll das nun heißen, man möge sich ständig seiner Sterblichkeit bewusst sein? Das klingt zwar tiefgründig, aber ist so unsinnig wie die Empfehlung vom bewussten Atmen, meint der Psychoanalytiker Peter Schneider, »welches einem – konsequent umgesetzt – keine bessere Sauerstoffversorgung, sondern allenfalls eine Atembeklemmung beschert.«
    Die Gedanken an die eigene Endlichkeit kommen, ob wir es wollen oder nicht, genauso wie die Gedanken an die nächste Reise, an den nächsten Geburtstag, das neue Auto oder den
neuen iPod. Es geht wohl eher darum, dass wir die Tatsache unserer Sterblichkeit bejahen und nicht der Illusion der eigenen Urheberschaft und Gestaltungsmacht verfallen, die meint, dass alles selbstgemacht und psychologisch steuerbar sei.
    Es gibt dieses ausgeklügelte Risikomanagement, das heute zu den Bürgerpflichten des 21. Jahrhunderts gehört, das der Vergänglichkeit gern ein Schnippchen schlagen

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