Lebe deine eigene Melodie
handlungswirksam werden. Kurzum: Es geht darum, Gewohnheiten auszubilden, die uns helfen, Situationen auszuweichen, die uns aus der Fassung bringen. Und bisweilen müssen wir uns schützen vor der Macht unseres schnellen Bauches, der in Sekundenschnelle falsch entscheiden kann. Dabei denke ich an die Kinder der Marshmallow-Studie, die es schafften zu widerstehen. Was taten sie? Einige legten ihre Hände vor die Augen, damit sie die verführerischen Süßigkeiten nicht sehen konnten. Andere lenkten sich ab und spielten in Gedanken mit irgendwelchem Spielzeug. Wieder andere stellten sich vor, die Marshmallows seien weiße Wolken, die nicht essbar seien. Lauter Tricks, Ideen und einfache Hilfsmittel, die zeigen, dass wir unseren Versuchungen nicht hilflos ausgeliefert sind. Manchmal sind es ganz banale Ablenkungsmanöver, die uns die Selbstkontrolle erleichtern.
Die Möglichkeit, sich zu sich selbst zu verhalten und auf seinen Willen durch Nachdenken Einfluss zu nehmen, ist etwas typisch Menschliches. Selbstkontrolle hat für manche vielleicht einen negativen Beigeschmack, aber immerhin ist sie eine Möglichkeit, wie wir uns verständnisvoll gegenüber unseren eigenen Schwächen verhalten. Egal wie alt wir sind, die Versuchungen hören nie auf – die neue Handtasche, das neue Handy, das Ferienhaus im Süden –, aber jeder muss auch lernen, Nein zu sagen. Und wenn dieses Nein nur darin besteht, dass wir gewisse Versuchungen einfach meiden. So nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht
heiß. Es gibt ein Lied von den Rolling Stones, das diesen Konflikt sehr schön zum Ausdruck bringt. Frei übersetzt lautet es: »Du kannst nicht immer bekommen, was du willst, aber manchmal ist dieses Nicht-bekommen genau das, was du gerade brauchst.«
Solange die Selbstkontrolle nicht selbst unkontrollierte Form annimmt, ist sie lebensnotwendig. Vor allem wenn man nicht aufgegeben hat, weiterhin großzügig gegenüber den anderen, Freunden, Bekannten und den eigenen sinnlichen Freuden zu bleiben. Einfach der Liebe und dem Leben zuliebe.
Versuchungen
Vor ein paar Jahren hätte man es wahrscheinlich nicht für möglich gehalten, dass man einmal in blühenden Gärten herumbuddelt, Hecken schneidet oder Kräuter sammelt. Hohe, prachtvolle Bäume, summende Wiesen und lauschige Gartenlauben waren früher willkommene Nischen für hitzige Verliebtheiten, die einen umtrieben. Heute sind wir zwangsläufig aufmerksamer, offener und empfindsamer geworden für die Wahrnehmung der Farben, Gerüche und Kreaturen dieser so reichen Welt. Wir schauen genauer und andächtiger hin, bevor wir handeln. Wir studieren die Dinge sorgfältiger, achtsamer, weil wir nicht mehr so heillos in den eigenen Gefühlswellen schwimmen. Es ist ein Gewinn, den man aber nicht zu glorifizieren braucht, denn er resultiert eben auch aus einem Vitalitätsverlust.
Diese relative Abgeklärtheit wirkt sich auch auf unmittelbare Gratifikationen, Versuchungen oder Verführungen aus. Sie haben nicht mehr den Reiz, den sie einmal besaßen. Zunehmende Lebenserfahrung hat uns gelehrt, nicht alt werden zu wollen ist etwas anderes als jugendlich zu sein. Die erste Zigarette, der erste Rausch, der erste Joint mögen Spontanentscheidungen gewesen sein, aber es gibt nur eine erste Zigarette, dann raucht man. Häufig waren diese Spontanentscheidungen keine Fehler des rationalen Denkens, sondern geschahen aufgrund von situativen Emotionen, die sogar tief angelegte Gefühle überstimmen oder übergehen können. Wir wollten zu einer Gruppe gehören, oder unsere Gefallsucht war stärker als der Selbsterhaltungstrieb. Manche solcher spontanen Entscheidungen sind nachhaltig geworden, andere legten wir notgedrungen ab, weil wir mittlerweile ernst nehmen, was das uns innewohnende
Potenzial an Verführbarkeit und Schwächen anrichten kann.
Sich zu verabschieden von Gewohnheiten oder Süchten ist hart. Für manche wie ein »kleines Sterben«. Auch wenn man weiß, dass dieses Leben so nicht weitergehen kann, legt sich Trauer auf die Seele. Zumal die meisten selbstzerstörerischen Gewohnheiten letztlich ein – wenn auch ungeschickter – Versuch der Eigentherapie sind. Man versucht sein Leid auszudrücken, ohne es aufgeben zu wollen. Zwar will man dem Leid entkommen, aber man will auch nicht auf den Trost und Schutz des Suchtmittels verzichten. »Ich hätte ewig so weitermachen können, aber ich halte es einfach nicht mehr aus«, so beschreibt es eine Frau treffend, die sich von einer
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