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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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Warnhinweis in ihre Rückspiegel eingraviert: »Objects in mirror are closer than they appear« steht darauf. Zu deutsch: Die Dinge im Rückspiegel sind näher, als man denkt. Das lässt sich deuten: Die Vergangenheit ist näher, als man denkt. Sie holt uns ein, einschließlich der Dinge, die man verdrängt oder unterlassen hat. Ihre Sätze kennen wir allzu gut. »Ach, hätte ich doch.« »Warum habe ich bloß nichts getan!« »Warum habe ich mich bloß nicht gewehrt?« Konnten wir früher leichtfertig über Unterlassungssünden hinweggehen, so ist die Unterlassung, das Dulden für viele jetzt schlimmer, als mit den Folgen einer falschen Entscheidung zu leben. Die meisten können sich eher damit aussöhnen, dass sie sich geirrt oder schlecht entschieden haben. Aber immerhin haben sie etwas gewagt oder riskiert, sind ihren Eingebungen gefolgt und haben danach gehandelt. Das stimmt gnädig, weil es allzu menschlich ist. Menschen tragen ja die besondere Auszeichnung mit sich, dass sie unvollkommen sind. Die Passivität hingegen hinterlässt ein schales Gefühl von mangelndem Mut oder gar von Feigheit. Man ist nicht seinen inneren Eingebungen gefolgt, hat sich nicht selbst vertreten, eingegriffen, wo man gefragt gewesen wäre, geschwiegen, wo man einen Standpunkt hätte beziehen sollen. Das nagt am Respekt vor sich selbst.
    Unterlassen hat mit Im-Stich-Lassen zu tun. Meist hat man nicht nur sich selbst, sondern auch andere im Stich gelassen. Man hat zwar nichts explizit Falsches, aber auch nichts Richtiges gemacht. Passivität führt zur Lähmung. Gegenüber anderen, und vor allem auch gegenüber sich selbst.
Man ist zwar kein aktiver Täter, aber man wird zu einem Täter, der durch sein Unterlassen oder Nichtstun in eine verdeckte Täterschaft gerät. Auch im Unterlassen liegt Täterschaft, weil man tief innen weiß, man hätte aktiv werden sollen. Dabei denke ich an die unzähligen Beispiele von Gerüchten, wenn Menschen Negatives weitererzählen, andere stigmatisieren, üble Nachrede betreiben, andere abwerten oder ausgrenzen. All diese Phänomene haben mit Unterlassung zu tun, weil man sich nicht dagegengestellt hat, Übertreibungen und Einseitigkeiten nicht korrigiert hat, keine Verantwortung übernommen hat oder eingeschritten ist. Unterlassung hat mit dem eigenen Standpunkt zu tun, den man oft trotz besseren Wissens verrät. Die Weisheit unserer Sprache belehrt uns: Einschreiten, Dagegenstellen, Übernehmen, all dies sind Handlungen, die uns fordern, die man lernen und üben muss. Sie haben mit dem aufrechten Gang, mit unserer Würde zu tun.
    Was steckt hinter dem Unterlassen? Bequemlichkeit, Feigheit, Desinteresse, Gleichgültigkeit, Angepasstheit? Vielleicht von allem etwas. Aber warum denken wir vermehrt darüber nach, wenn wir älter werden? Weil uns an etwas gelegen ist, was vielleicht altmodisch klingt: Respekt. Respekt vor uns selbst und damit auch vor anderen. Und Respekt braucht den Rückspiegel. Schon allein das Wort selbst, dessen lateinische Wurzel so viel wie Zurücksehen und Berücksichtigen bedeutet, zeigt die Richtung an. Sich umdrehen, zurückschauen. Und wenn man nach vorn schaut, dann fallen einem diese kleinen Bosheiten ein, die einen sprachlos machen, weil wir nicht gut ausgerüstet sind für diese coole Sprache, in der es »labern« heißt, oder »Ey Alte!«, wo man als Spießer gilt, wenn man siezt und nicht lässig genug auftritt. Man ertappt sich dabei, dass man die Klappe hält, runterschluckt oder ignoriert, obwohl man
empört ist und Widerworte finden müsste. Die Nachricht ist klar: Wer würdevoll behandelt werden will, muss etwas dafür tun.
    Aber unser Feind ist die Angst – vor allem die Angst vor der eigenen Stärke. C.G. Jung sprach immer wieder davon, dass wir die meiste Zeit »in zu kleinen Schuhen gehen«. Damit meinte er, dass wir uns eher den Anforderungen der Umwelt anpassen, als unseren eigenen emotionalen Gefühlen und Wünschen zu vertrauen. Der wichtigste Gegenspieler zur Angst ist nicht die Gefühllosigkeit oder die Gleichgültigkeit, sondern der Mut zur eigenen Größe. Natürlich ist es einfacher, »klein« als »groß« zu leben. Auch wenn »groß« leben oft als narzisstisch bezeichnet wird, so ist diese Abwertung eine Verwechslung, denn »groß« leben heißt, den Mut aufbringen, der zu sein, der man ist. In den Schuhen gehen, die der eigenen Größe angemessen sind. Das meint auch das schöne englische Wort »sound«, das in seiner Vielschichtigkeit viel mehr als

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