Lebe deine eigene Melodie
»gesund sein« im üblichen Sinne ausdrückt: stimmig sein, voll klingen. »Groß« leben bedeutet, sich nicht gekränkt oder beleidigt zur Seite zu drehen, sondern den Kopf hoch zu tragen. Sich auszufüllen bis unter die Haut. Nach vorn schauen und nicht nur zurück.
Es gibt eine einfache Frage, die wir auf jede Situation – sei es nun in Kontakten, Begegnungen, Beziehungen – anwenden können: Macht diese oder jene Reaktion mich größer oder kleiner? Meist wissen wir die Antwort sofort, weil wir intuitiv spüren, was es heißt, in die eigene Würde zu wachsen. Aber dieses Wissen macht auch Angst, vor allem wenn wir uns vorstellen, was es uns abverlangt. Es lohnt sich, diese Frage immer wieder zu stellen, bis die Antwort prägnant wird. Irgendwann wissen wir, was von uns gefragt ist. Aber genau so groß wie dieses Wissen ist auch der Widerstand gegen dieses Wissen. Deswegen kann man weitergehen und
fragen: Was will ich vermeiden? Solche Offenbarungen sind heilsam, weil sie uns genau an die Stellen führen, wo wir in Kontakt mit dem kommen, was uns mehr Leben verspricht, was wir anschauen müssen, um zu wachsen.
Es sind die Unterlassungen, die uns – so schmerzlich sie sind – mit dem in Verbindung bringen, was uns ein größeres Leben verspricht. Wir realisieren, dass unser eigener Standpunkt gefragt ist. Und wir merken vielleicht, dass das, wovor wir uns am meisten ängstigen, unsere eigene Freiheit, unsere Selbstbestimmung ist.
Süße Träume
Eine soeben geschiedene Klientin fragt mich: »Warum vermasseln wir so viel im Leben?« Dabei hören wir doch ständig diese verführerischen Imperative: »Du kannst alles aus dir machen!« »Lebe deine Träume!« »Egal wie alt du bist, du musst nur wollen!« »Sei nicht so bescheiden!« »Trau dich!« Lauter leere Versprechungen, die uns vorgaukeln, dass alles von uns selbst abhängt. Spätestens nach der Lebensmitte realisieren wir ernüchtert, dass diese Optionen ihren Preis haben. Das Gehalt ist zwar bestens, aber für Freizeitaktivitäten bleibt keine Zeit. Die Wohnung im Grünen ist zwar traumhaft, aber die Nachbarn sorgen regelmäßig für frische Hölle. Der aufregende Partner, mit dem man bis zum Ende der Welt reisen wollte, entpuppt sich als Langweiler. Und umgekehrt: Der Bekannte, mit dem man nur wenig Gemeinsames hat, erweist sich als rettender Engel. Die Fortbildung, die man halbherzig begann, wird zur Erfüllung eines Traumes.
Es gibt keine Garantie, dass unsere Entscheidungen Erfüllung mit sich bringen. Oft haben wir erst später realisiert, dass wir Entscheidungen konstelliert haben, in die wir nachträglich hineinwachsen mussten. Mitunter hat die Suppe bitter geschmeckt, die wir auszulöffeln hatten, manchmal war es uns nicht einmal bewusst, dass wir sie uns selbst eingebrockt hatten. Das Gewicht des Nichtgelebten, des Nichtzuändernden, des Nichtgelungenen, des Nichtwiederholbaren, des Nichteingestandenen lastet auf uns. Genug Gründe, weise zu werden oder schweigsam zu werden, stellen sich ein. Oder soll man lieber aufbegehren, aufbrausen, unvernünftig reagieren? Auch wenn wir über die Jahre besser mit Realitäten umzugehen gelernt haben, oder zumindest uns
damit vertraut gemacht haben, dass Fehler und Verluste auch einen selbst treffen, so komme ich zurück zur Eingangsfrage: Warum vermasseln wir so viel? Anders gesagt: Kann man lernen, Enttäuschungen zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren?
Einer der Gründe ist unser schneller Bauch, der mit seiner Hotline in aller Heimlichkeit Sinnesdaten sammelt und subito reagiert. Man denke an die typische Situation vor dem Kühlschrank, ehe man sich versieht, hat man das leckere Törtchen im Mund und ertappt sich genüsslich mampfend, bevor man überhaupt überlegen konnte, ob man wirklich Hunger hat. »Jetzt essen«, heißt die Bauchdevise, weil der Bauch nur das Jetzt kennt. Diese pragmatische Vereinfachung, die Unberechenbarkeit des Denkens und Handelns kann auch bei bewussten Entscheidungen eine Rolle spielen. Ein starker Reiz, eine Attraktion oder ein bestimmter Glaube können von diesem automatischen System betroffen sein, und noch ehe die Vernunft nachkommt, hat einen die Liebe wie ein Blitzschlag getroffen. Weil wir sehr viele Handlungen aus dem Unterbewusstsein ausführen, ohne darüber nachzudenken, hat es eine große Macht. Wir wissen vieles, ohne zu wissen warum. Wir handeln auf bestimmte Art und Weise, ohne zu ahnen wieso. Wir sind freudig oder traurig, kennen aber nicht den Grund.
Weitere Kostenlose Bücher