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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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Wir faulenzen im Ohrensessel, obwohl wir spazieren gehen wollen. All diese Gewohnheiten, Verhalten und Glaubenssätze sind hier in diesem automatischen System verankert. Sie entwickeln sich aus gemachten Erfahrungen und der Art der Verarbeitung durch unser Unterbewusstsein und nicht durch bewusste Entscheidungen.
    Im Gegensatz dazu braucht das langsame Großhirn unsere Aufmerksamkeit und ist eher für langwierige Beurteilung, logisches Denken, Analysieren und Probleme lösen
zuständig. Hier können wir Ideen und zukünftige Entscheidungen und Handlungen innerlich ausprobieren und uns die Konsequenzen unserer Entscheidungen ausmalen, denn hier liegt auch unsere Meinung zu oder über etwas. Verglichen mit dem Unterbewusstsein arbeitet es langsamer, ist anstrengender und braucht unsere Motivation und unseren Willen.
    Wenn beide Bereiche zusammenarbeiten, dann entsteht Kraft und Klarheit – das Gegenteil von Unsicherheit und Konflikt. Der Autofahrer, der in Sekundenschnelle einem Reh auf der Straße ausweicht, der Musiker, der seine Fingersätze automatisch beherrscht und so himmlisch interpretiert, dass der Hörer Gänsehaut bekommt. Beides sind Erfahrungen, bei denen die beiden Systeme an einem Strang ziehen, die wir bei Entscheidungen als Gewissheit erleben, »dass es stimmt«.
    Oft genug aber sind die beiden sich nicht einig, und in solchen Situationen muss eines von beiden die Oberhand gewinnen. Im Augenblick der Gefahr, wenn es um rasche und klare Entscheidungen geht, werden wir sicher eher der schnellen Hotline vertrauen. Wenn genug Zeit zum Reflektieren bleibt, überlassen wir wahrscheinlich eher der oberen Etage die Führung. Und bei der Frage »Wein trinken oder lieber nicht«, spüren wir wahrscheinlich, welches System die Oberhand gewinnen will, was aber nicht heißt, dass wir dem klugen Großhirn folgen und die richtige Antwort geben wollen.
    Genau zu diesem Konflikt »widerstehen oder nachgeben« führte der Psychologe Walter Mischel in den späten 60er-Jahren interessante Studien durch – die sogenannten »marshmallow studies«. Vierjährigen Kindern wurde die beliebte Süßigkeit »marshmallow« angeboten. Dann verabschiedete sich der Versuchsleiter und versprach ein zweites
Marshmallow, wenn er zurückkommt. Allerdings gäbe es die Möglichkeit zu klingeln, dann käme er sofort, aber es gäbe kein zweites. Ein echter Härtetest für die Kleinen, von denen auch die meisten innerhalb von drei Minuten klingelten. Wer kennt sie nicht, diese Versuchungen, die einen fast zerreißen: »Soll ich die todschicke Handtasche, den Laptop kaufen – oder soll ich nicht?«, »Soll ich den Mann treffen – oder nicht?«, bis schließlich die Stimme der Versuchung siegt. Der Reiz des Verbotenen macht die Sache natürlich noch spannender. Natürlich kann man einer Versuchung nachgeben, um sie loszuwerden, aber meist meldet sich rasch hinterher die Stimme der Reue mit ihrem: »Hätte ich doch nicht!« »Wie konnte ich bloß!« Für Kinder haben wir noch Verständnis, wenn ihr Bauch über den Kopf siegt. Ihre Reflexionsfähigkeit ist noch nicht weit entwickelt. Aber selbst bei Erwachsenen mit ihren weiter entwickelten Denkkapazitäten wirkt der Marshmallow-Effekt. Selbst wenn wir wissen, was zu tun wäre – erst die anfallende Arbeit erledigen, dann fernsehen; Geld zurücklegen, um die neue Kücheneinrichtung zu kaufen; auf Alkohol verzichten wegen des Autofahrens – geraten wir immer wieder in Situationen, die unseren Willen schachmatt setzen. »Ich war gar nicht richtig da«, oder »irgendetwas muss mich geritten haben«, oder »ich war nicht bei mir selbst« – das sind die Sätze, die ausdrücken, dass in solch einem Moment die Fähigkeit, auf den Willen durch Nachdenken Einfluss zu nehmen, verloren ging.
    Ist Selbstkontrolle die Lösung? Wir sollten sie nicht unterschätzen. Immerhin ist die Hoffnung auf ein angemessenes Maß an Selbstkontrolle und die Kraft zur Einsicht in allen großen Philosophien ein Leitstern, an den wir unseren Karren hängen sollten. Wirklich beherrschen können wir nur eines: uns selbst. Selbstkontrolle ist eine Voraussetzung
für reifes, kluges, selbstbestimmtes Älterwerden. Aber es geht um das uns bekömmliche Maß. Strikte, starre Selbstkontrolle macht freudlos und eng. Wir brauchen wohl beides: Spielräume, in denen wir loslassen, träumen, genießen, und Räume, in denen wir uns hinter unsere Aufgaben und Ziele stellen, uns von ihnen tragen lassen, so dass unsere Wünsche

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