Lebe deine eigene Melodie
widerstehen, und der es schafft, angesichts einer Lebens- oder Liebeskrise das Sowohl-als-Auch und das Weder-Noch mit zu bedenken. Es fällt vielleicht nicht leicht, sich aus diesem Entweder-Oder heraus zu lösen und zu bedenken, dass jede Entscheidung unzählige Perspektiven und Facetten besitzt. Zu schnell neigt man dazu, seine Wünsche zu verabsolutieren und zu vergessen, dass in diesen Konflikten »trennen oder aufgeben« mehr steckt, als man durch die Brille der Erlösungssehnsucht durch den »Richtigen« sehen möchte.
»Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.«
»Ich habe mein ganzes Leben unter der Angst vor dem Alleinsein gelitten. Durch mein Studium und meinen Glauben habe ich allmählich verstanden, dass ich nicht allein bin, selbst wenn ich allein bin – zumindest theoretisch.« Diese Aussage einer Pfarrerin lässt aufhorchen, deckt sie sich doch mit der Beobachtung, dass die meisten Frauen nur schwer allein sein können. Mir fällt auf, dass die Angst mit steigendem Lebensalter sogar zunimmt. Eine Klientin spricht über ihren Mann, mit dem sie schon 30 Jahre verheiratet ist, nicht sonderlich glücklich aber auch nicht unglücklich. Sie nennt ihn »den Lückenbüßer«, weil er ihr in einer schweren Krise half und nichts Besseres nachkam. Neuerdings hat sie allerdings kleine »Melancholie-Anfälle«, die sie irritieren: War das alles? Habe ich etwas versäumt? Auf die Frage, warum sie 30 Jahre bei »ihrem Lückenbüßer« blieb, erwidert sie: »Weil ich nicht allein sein kann.«
Unsere traditionelle Sozialisierung trägt mit dazu bei, dass wir Eigenständigkeit mühsam lernen müssen. Viele Töchter werden immer noch als zukünftige Männerversorgerinnen erzogen und fühlen sich später als Frauen ohne einen Mann übriggeblieben, auf dem Abstellgleis, wertlos. Zuzugeben, dass man allein ist, ist für viele fast beschämender als eine der Todsünden. Der Mann an der Seite gilt eben auch heute noch als Etikett erfolgreicher Weiblichkeit.
Am schlimmsten betroffen sind diejenigen, die nach einer Scheidung oder dem Tod des Partners plötzlich allein sein müssen. Die niemanden mehr haben, der sie braucht: »Wann ist das Essen fertig?« »Wo ist meine Jacke« »Kannst du mir mal helfen?« Es ist knochenhart, dieses erzwungene Alleinsein. Anfänglich hofft man, dass die Tür wieder
aufgeht, und wie von Zauberhand sei alles wieder wie zuvor. Dann irgendwann, wenn die Zeit sich endlos dehnt, realisiert man, es ist von Dauer. Keiner mehr, der anruft, der einen streichelt, der einem die Schüssel reicht, die Tür öffnet, die Katze füttert. Man lernt sich damit abzufinden, dass die Einsamkeit wie Ebbe und Flut steigt und fällt, aber was bleibt, ist dieses Verlangen, mit jemandem zu sprechen. Dieser kleine tägliche Austausch an Beachtung, an Sorgen, Meinungen und Beobachtungen, ohne den man fast erstickt. Es ist eine bewundernswerte Leistung, eine so radikale Neuorientierung zu schaffen. Sie erfordert eine innere Anstrengung, die durchaus vergleichbar ist mit derjenigen der Ablösung von den Eltern. Ängste, die an frühe Gefühle des Verlassenseins und der Hilflosigkeit erinnern, werden hochgespült. Trauer und scharfer Schmerz leiten eine Umstellung ein, die einem das Letzte abverlangt. Wohl denen, die es im Einklang mit sich selbst schaffen, sich wieder nach außen zu öffnen.
Alleinsein will geübt sein. Trifft es uns doch alle früher oder später. Je älter man wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, durch Trennung, Scheidung, Krankheit oder Tod in das Alleinleben gestoßen zu werden. Das Leben dünnt sich aus, Freunde, Verwandte und die Eltern sterben weg. Diese drohende dunkle Wolke am Horizont bestimmt unsere Pläne und Einstellungen weit mehr, als es uns bewusst ist. Die Zeichen häufen sich: Man liest die Todesanzeigen aufmerksamer, man sagt verdächtig oft »wer weiß, wie lange noch«, man spricht nicht mehr vom Glück, sondern vom »Noch-Glück«, und man wird ungeduldiger, weil man keine Zeit mehr verschwenden will.
In jungen Jahren bedeutete der Verlust einer Beziehung ein Übergangsstadium zur nächsten Beziehung. Man wusste: der oder die Nächste kommt bestimmt. Im letzten Drittel
sieht das anders aus. Da trifft die Zeile aus Rilkes Herbstgedicht zu: »Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.« Es braucht Mut, dem Alleinsein entgegenzusehen, wenn die Zumutungen, denen man sich fügen muss – angefangen vom Verlust jugendlichen Aussehens hin zur Erfahrung beruflich nicht mehr
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