Lebe deine eigene Melodie
einziges Wort, das ihn wachrüttelte, woraufhin er begann, seine Wohnung heimisch zu gestalten und sogar hin und wieder Kollegen einzuladen.
Vielleicht gestalten sich die Richtungswechsel unauffällig, fast unmerklich, aber betrachtet man sie aus der Rückschau, so merkt man, wie sich ein eigensinniger, persönlicher Lebensweg allmählich abzuzeichnen beginnt.
C.G. Jung meinte, dass Neurose eine Flucht vom wirklichen Leiden sei. Ich meine, dass wir dort wirklich authentisch sind, wo wir in Konflikte geraten, wo Ambivalenzen unsere Spannungstoleranz herausfordern, wo wir in die Mühle geraten zwischen dem, was wir sollten und dem, was wir wollen. »Soll ich mich scheiden lassen oder nicht?« »Ist das gut oder schlecht?« »Werde ich das Unbehagen der Einsamkeit aushalten?« »Werde ich damit fertig, dass ich die Unantastbarkeit der Ehe verletze?« Fragen, die man je nach Blickwinkel mit »Ja« oder »Nein« beantworten könnte. Wichtiger aber erscheint mir die größere Perspektive, die zu einer Bewusstheit führt, um was es wirklich geht, wenn man sein Leben im größeren Kontext sieht. Vielleicht geht es darum, unterscheiden zu lernen zwischen einer Entscheidung, die sich einem von außen her aufdrängt und einem Eigenwillen, in dem die eigene Persönlichkeit und Einzigartigkeit
zum Ausdruck kommen kann, trotz aller Kritik und Ablehnung, die man vielleicht dafür erntet. Solange die wirklichen Themen im Verborgenen bleiben, ist man geneigt, die Spannung einfach aufzulösen und sich für »Ja« oder »Nein« zu entscheiden. So verfällt man zu früh in Aktionismus und strickt weiter an seiner Unfreiheit, indem man handelt, statt zu warten und zu leiden, bis sich das Ureigene meldet und sich eine innere Entscheidung anbahnt, die dem Eigenen Platz macht, bei der man sich selbst treu bleibt. Das wäre eine Entscheidung, die einen Neuanfang ermöglicht, die der Zukunft echte Offenheit verleiht.
Eine Frau erzählt: »Die Sehnsucht nach der großen Liebe treibt mich nach wie vor um. Ich bin zwar seit über 35 Jahren verheiratet, aber ich ertappe mich immer wieder, dass ich nach dem ›Richtigen‹ suche. Soll ich mich trennen oder einfach resignieren?« Rat zu geben auf solch eine Frage wäre wahrscheinlich vermessen. Wer möchte schon gern Verantwortung für solch eine Entscheidung übernehmen? Was bleibt also? Eine Psychotherapie? Eine Psychoanalyse? Eine Paartherapie? In solchen Momenten greife ich gern auf Geschichten zurück, die das eigene Nachdenken ankurbeln. Meiner jüdischen Freundin verdanke ich die folgende: Ein Mann, der seinen Gästen eine Mahlzeit bereiten will, kommt zum Rabbi. »Rebbe«, sagt er, »ich habe ein Huhn und einen Hahn. Schlachte ich das Huhn, kränkt sich der Hahn, und schlachte ich den Hahn, so ist das Huhn traurig. Wen also soll ich schlachten?« Der Rabbi denkt lange nach und sagt schließlich: »Schlachte das Huhn!« »Aber dann kränkt sich doch der Hahn«, erwidert der Mann empört. Der Rabbi schweigt wieder und denkt intensiv nach. Schließlich sagt er: »Dann schlachte den Hahn!« »Aber Rebbe, dann kränkt sich doch das Huhn.« »Nu, soll es sich kränken«, antwortet der Rabbi.
Ist die Frage nun beantwortet? Am besten fährt man wohl, wenn man die Hoffnung loslässt, ausgerechnet das planen zu können, was sich am schlechtesten planen lässt – nämlich die Liebe und das Glück. Wenn man die angestrengte Planung fahren lässt, sind zwar Liebe und Glück nicht garantiert, aber man schafft immerhin die Bedingung dafür, dass sie sich irgendwann einstellen können. Dabei denke ich an das »Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Planens« aus Bertolt Brechts »Dreigroschenoper«: »Ja, mach’ nur einen Plan. Sei nur ein großes Licht! Und mach’ noch ’nen zweiten Plan. Geh’n tun sie beide nicht.«
Besonders trifft das auf Pläne zu, die wir mit unseren und für unsere Partner und Geliebten machen. Vielleicht entlastet es ein bisschen zu bedenken, wie wenig die Liebe und das Glück sich in Pläne einfangen lassen. Es geht aber nicht darum, dass wir keine Pläne mehr machen sollten, sondern darum, dass man sich eine Offenheit bewahrt, die das Unplanbare entlang der eigenen Wünsche immer mit einbezieht und sich von ihm überraschen lässt.
Zurück zur Frage: »Soll ich mich trennen oder resignieren?« Sie klingt so, als fordere sie eine klare Antwort. Entweder oder? Entspannter ist wohl der, dem es wenigstens ansatzweise gelingt, diesem totalitären Anspruch zu
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