Lebe lieber innovativ

Schwelle zum selbstständigen Gang zur Toilette waren. Es musste doch möglich sein, diese Sichtweise ins Positive umzukehren. Wie konnte die Windel zu einem Erfolgssymbol werden, statt Symbol des Scheiterns zu sein? Michael hatte die Idee, Pull-Ups ®, also Windelhöschen, zu entwickeln, eine Mischung aus Windel und Unterhose. Von Windeln auf Pull-Ups umzustellen, galt nun sowohl für Eltern als auch für Kinder als ein großer Meilenstein. Ein Kind, das es schafft, ein Windelhöschen ohne fremde Hilfe anzuziehen, kann auf seine Leistung stolz sein. Diese Erkenntnis führte zu einem Milliardenplus in der Jahresbilanz von Kimberly-Clark und dazu, dass das Unternehmen seinen Wettbewerbern bald um Längen voraus war. Das neue Produkt war dadurch entstanden, dass zuerst zielgerichtet ein Bedarf ermittelt wurde, dann das Problem klar benannt und in eine Chance umgewandelt wurde.
     
    In meinen Kursen arbeite ich oft mit einer Fallstudie über den Cirque du Soleil 3 , durch die die Studenten ihre Fähigkeit verbessern
sollen, gängige Auffassungen über bestimmte Dinge infrage zu stellen. Der Hintergrund der Fallstudie ist das Zirkusgeschäft in den 1980er-Jahren, als es wirtschaftlich sehr schlecht lief. Die Vorstellungen waren vorhersehbar und langweilig, die Besucherzahlen rückläufig und die Haltung von Zirkustieren stand in der Öffentlichkeit unter Beschuss. Es schien kein guter Zeitpunkt zu sein, um einen neuen Zirkus zu gründen, doch genau dazu entschied sich der kanadische Straßenkünstler Guy Laliberté. Guy begann sein Unternehmen Cirque du Soleil damit, dass er die gängige Vorstellung davon, wie ein Zirkus aussehen sollte, hinterfragte. Dadurch verwandelte er ein Problem, nämlich eine aussterbende Branche, in eine Chance.
    Zuerst zeige ich den Studenten Ausschnitte aus dem Film Die Marx Brothers im Zirkus aus dem Jahr 1939 und bitte sie, alle gängigen Vorstellungen von einem traditionellen Zirkus herauszuarbeiten: ein großes Zelt, Tiere, billige Eintrittskarten, Marktschreier, die Andenken verkaufen, verschiedene Darbietungen, die gleichzeitig vorgeführt werden, lustige Musik, Clowns, Popcorn, starke Männer, brennende Reifen usw. Dann bitte ich sie, das Ganze umzudrehen und sich von jedem das genaue Gegenteil vorzustellen. Auf der neuen Liste findet sich dann etwa: ein kleines Zelt, keine Tiere, teure Plätze, keine Marktschreier, Vorführung der Darbietungen nacheinander, anspruchsvolle Musik und weder Clowns noch Popcorn. Danach können die Studenten die Dinge aus dem alten Zirkus auswählen, die sie gern beibehalten würden, und solche, die sie ändern würden. Das Ergebnis ist ein ganz neuer Zirkus à la Cirque du Soleil . Dann zeige ich den Studenten Videos von einigen aktuellen Vorstellungen des Cirque du Soleil , in denen das Ergebnis der eben von ihnen erarbeiteten
Veränderungen zur sehen ist. Nachdem wir die Übung mit dem Zirkus gemacht haben, ist es ganz leicht, das Prinzip auch auf andere Branchen oder Organisationen anzuwenden: auf Fastfood-Restaurants, Hotels, Fluggesellschaften, Sportereignisse, das Bildungssystem und sogar auf das Flirten und Heiraten.
    Wenn man einmal den Bogen heraus hat, ist es eine leichte Übung, mit der wir alle Aspekte unseres Alltags und unserer beruflichen Karriere neu bewerten können. Der Schlüssel dazu liegt darin, sich zunächst die Zeit zu nehmen, gängige Überzeugungen zu einem bestimmten Thema als solche zu erkennen. Das ist normalerweise der schwierigste Teil, denn – wie im Fall der Ballonangioplastie beschrieben – sind unsere Überzeugungen und Handlungsmuster ein so fester Bestandteil unseres Weltbildes, dass wir sie nicht ohne Weiteres als solche erkennen. Wenn man aber ein wenig Übung darin hat, ist es eine sinnvolle Methode, um den Blickwinkel zu ändern und Verbesserungsmöglichkeiten zu finden.
    Manchen Menschen fällt es besonders leicht, festgefahrene Überzeugungen als solche zu erkennen und infrage zu stellen. Auf der Suche nach kreativen Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme zweifeln sie die Grenzen dessen an, was sinnvoll und möglich ist. Sie beginnen an exotischen Orten ein ganz neues Leben, übernehmen Projekte mit einem gewaltigen Arbeitsumfang, sie treffen radikale Entscheidungen und bahnen sich einen neuen Weg, der sie auf unerforschtes Terrain führt. Oft bewundern wir solche Menschen voller Ehrfurcht – was uns allerdings selbst davon abhält, ähnliche Sprünge zu wagen.
    Nehmen wir als Beispiel Sandra Cook, die