Lebe lieber innovativ
Als er versuchte, wieder aufzustehen, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Mir war unwohl dabei, einfach weiterzugehen ohne zu helfen, doch ich hatte auch Angst ihn anzusprechen, weil ich fürchtete, dass es ihm peinlich sein könnte, wenn ich die Aufmerksamkeit auf seine Behinderung lenkte. Dasselbe Gefühl hatte ich noch einmal, als einer meiner Kurskollegen seine Mutter nach langer Krankheit verlor. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und aus Angst, das Falsche zu sagen, sagte ich lieber gar nichts. Jahre später lief ich über den Campus der Stanford . Am Vortag hatte es geregnet und ich fiel ziemlich unglücklich in den Matsch. Zerschrammt, verletzt und schmutzig setzte ich mich auf den Bordstein und die Tränen liefen mir die Wangen hinunter.
Mindestens ein Dutzend Leute gingen an mir vorbei, doch nicht ein Einziger fragte mich, ob ich irgendetwas bräuchte. Genau in diesem Moment wusste ich plötzlich, was ich dem Kommilitonen, der vor Jahren vor dem Seminarraum gestürzt war, hätte sagen können und auch dem, der seine Mutter verloren hatte. Ich hätte nur fragen müssen: »Ist alles in Ordnung bei dir? Kann ich irgendetwas für dich tun?« Heute erscheint das völlig logisch. Es ist erstaunlich, dass ich so viele Jahre gebraucht habe, um das herauszufinden.
Diese Lektion gilt gleichermaßen für den Umgang mit Fremden wie für die Arbeit im Team. Die meisten von uns geraten häufig in Situationen, in denen wir dazu ermutigt werden, uns auf Kosten anderer zu profilieren. Dadurch haben wir kaum Gelegenheit, die Fähigkeit zu trainieren, anderen zu helfen. Ich erinnere mich noch an meine erste Woche an der Universität, als ich ein Mädchen aus meinem Studentenwohnheim bat, mir bei einer anspruchsvollen Mathematikaufgabe zu helfen. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte sie: »Wenn ich dir jetzt helfe, wirst du im Test besser abschneiden als ich und für das Medizinstudium zugelassen werden und ich nicht.« Das ist nicht übertrieben. Sie wollte mir nicht helfen, weil wir vielleicht in vier Jahren hätten Konkurrentinnen sein können. Jahre später beschwerte sich mein Sohn darüber, dass die Benotung in all seinen Kursen nach der Gesamtleistungskurve erfolgte. Das heißt, er und seine Klassenkameraden mussten sich nicht nur auf den prüfungsrelevanten Stoff konzentrieren, sondern es war auch ausschlaggebend, wie sie im Vergleich zu den anderen abschneiden würden. Das hält viele davon ab, einander zu helfen.
Nachdem ich jahrelang in einem solchen Umfeld gearbeitet hatte, wusste ich überhaupt nicht, wie ich richtig teamfähig
werden sollte. Ich brauchte lange, um festzustellen, dass die Einstellung, stets nur auf Kosten von anderen gewinnen zu können, völlig kontraproduktiv ist. Fast alles im Leben kann durch Teamarbeit leichter und schneller bewältigt werden, und diejenigen, die nicht wissen, wie sie zum Erfolg anderer beitragen können, sind erheblich im Nachteil. Wirklich gute Teamplayer geben sich große Mühe, um auch anderen zum Erfolg zu verhelfen. Tatsächlich gilt Folgendes: Je weiter Sie in einer Organisation aufsteigen, desto unbedeutender werden die Beiträge, die Sie als Einzelperson leisten. Denn in gehobenen Positionen haben Sie vielmehr die Aufgabe, andere zu führen, zu inspirieren und zu motivieren. Den Großteil Ihrer Arbeit erledigen Kollegen, deren Aufgabe es ist, Ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Wenn Sie sich von daher mit der Zusammenarbeit mit anderen schwertun, verringert das Ihre Befähigung zu Führungsaufgaben. Erfolgreiche Teamplayer wissen, wie jedes ihrer Teammitglieder funktioniert, und sie überlegen sich, auf welche Weise jeder Mitarbeiter geleitet werden muss, um erfolgreich zu sein. Darüber hinaus zeichnen sich hervorragende Führungskräfte dadurch aus, dass sie die Stärken ihrer Arbeitskräfte genau kennen und geschickt einsetzen können.
Ich habe schon in Gruppen mitgearbeitet, in denen jeder das Gefühl hatte, er selbst hätte die »leichteste« Aufgabe erhalten. Genau genommen sieht so das ideale Arbeitsumfeld aus: Jeder Einzelne tut das, was er am besten beherrscht, und bringt den Leistungen der anderen seine volle Wertschätzung entgegen. Die Aufgabe eines jeden ist genau auf dessen Fähigkeiten und Interessen abgestimmt. Jeder ist mit seinen eigenen Beiträgen und mit denen der anderen ausgesprochen zufrieden. Der Ausspruch »Zeichne die Zielscheibe dorthin, wo
der Pfeil getroffen hat« bringt das hervorragend auf den Punkt. Diese Redensart habe ich
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