Leben bis zum Anschlag
weitere Fragen stellt, sie träumt von einem wortlosen Einverständnis zwischen ihnen und schlängelt sich im Marschschritt durch die Kiezmeute, die sich in der Silbersackstraße langsam auflöst. Drei Schweigeminuten von der sündigen Meile entfernt stehen die beiden vor einer der großen Bausünden des städtischen Wohnungsbaus. Die Trostlosigkeit kann sich absolut mit einer Ferienanlage an der Costa Brava messen.
Home! Sweet Home!
Maika zerrt an der Tür. Sie geht schwer auf und lässt sich nach zig ins Schloss geschmierten Sekundenklebern nicht mehr abschließen. Vor Frank geht Maika schnell die Treppen hoch.
Am Aufzug steht: »Wegen VANDALISMUS außer Betrieb.« Für Leute mit Kindern und für die Alten im fünften Stock ist das Leben hart geworden. Das findet seinen Ausdruck in dem weiteren Vandalismus, der den Hinweis unlesbar macht.
Maika denkt gerade an Anjas Sturz, als Frank über ein Paar zusammengebundene Turnschuhe stolpert. Er grummelt etwas vor sich hin und Maika bemerkt seinen Blick auf die Schuhansammlungen vor den Türen.
»Circa zweihundertfünfzig von den Socken gepellte und zum Durchlüften vor die Tür gestellte Schuhe stehen hier rum. Kann sich Fußpilz auf die Lungenbläschen schlagen?«
»Glaub ja«, sagt Frank und hustet. »Ist es noch weit?«
»Eine Treppe noch.«
An Hansens Wohnung geht Maika immer extra laut vorbei, wenn sie nicht will, dass er ihr in den Weg springt. Das funktioniert meistens und diesmal auch. Hausmeister Hansen hat seine Kontrollsensoren auf vorüberschleichende Mieter eingestellt.
Sie schließt ihre Wohnung auf und zieht Frank herein.
»Ist jemand da?«, flüstert er. Das sanft gedimmte Licht ist an.
Maika schüttelt den Kopf.
»Wohnst du hier allein?«
»Zurzeit ja.«
Sie hilft ihm, die Gitarre abzunehmen.
Und dann stehen sie voreinander.
Der Baukollege von Noras Vaters ist früher gekommen. Er haut den restlichen Braten weg, danach werden sie aufbrechen und die Nacht durchfahren. Yolanda verbreitet Stress, und Nora kann absolut nichts von dem tun, was sie gern machen würde. Aussichtslos, sich zu verdrücken.
Aber wenigstens gibt es keine Einwände, als sie in ihr Zimmer, das ehemalige Elternschlafzimmer mit dem überdimensionierten Eltern-Schlafzimmerschrank, geht. Sie zieht sich die Decke über den Kopf, stellt ihr Aufnahmegerät an und singt in einer Art Flüstergesang ihr neues Lied High Tension.
Jeden Moment kann jemand reinplatzen und »Was machst du da?« brüllen. Es ist brutal heiß unter der Decke. Das sind meine Lebensbedingungen, das muss man sich mal reinziehen, denkt
Nora. Ob Maika ihr für eine Nacht die Wohnung abtritt, wenn sie doch sowieso meistens bei Leif ist? Irgendwo auf diesem Planeten muss es einen Platz geben, wo sie hinkann, wo sie endlich allein ist mit Keath. Ein Hotelzimmer wird sie im Leben nicht kriegen, nicht mit Keath, genauso wenig wie ein Zugbegleiter sie mit einem Kinderticket aus der Bahn werfen würde.
Es klopft an Noras Tür.
Franks Küsse sind mit Daves nicht zu vergleichen. Dave hat damals ihre Lippen fast zum Platzen gebracht. Jetzt schmilzt sie dahin, öffnet sich, löst sich auf und segelt davon. Vergleiche mit Leifs Küssen stellt Maika nicht an, weil sie ihn bis an den Rand ihres Unterbewusstseins verdrängt hat.
»Wie lange hast du Zeit?«, fragt sie.
»Bis morgen.«
Nach zwei Handgriffen, die an eine asiatische Kampftechnik erinnern, so schnell liegen Hose und T-Shirt auf dem Boden, ist Maika nackt. Franks Augen blitzen. »Kann ich erst mal duschen? Bin so verschwitzt vom Gig.«
»Handtücher …«, Maika deutet auf einen Stapel neben der Dusche, »sind da.« Dann macht sie die Badezimmertür hinter ihm zu.
Musik! Essen! Trinken!
Ersteres ist vorbereitet, aber die Lebensmittel und Getränke, die sie für den Fall besorgen wollte, dass ein Sozialarbeiter ihre Lebensumstände kontrolliert, hat sie total vergessen. Die Ausbeute ihrer Suche ist eine Kanne Leitungswasser, ein Liter H-Milch, drei Dekokartoffeln mit acht Zentimeter langen Trieben, zwei Maggi-Frühlingssuppen, eine Packung Reiswaffeln, vier Scheiben Sesamknäcke und Nutella. Die Haltbarkeit der
anderen Sachen ist abgelaufen, ihr Aggregatzustand ist von fest in flüssig zu gasförmig hinübergewechselt. Alles Essbare wird auf ein Tablett gestellt und in ihr Zimmer getragen. Maika macht Musik an und dreht an der Lautstärke und am Lichtdesign, bis Frank kommt. »Ist es gut so?«
»Ja.«
»Wie heißt du?«
»Frank. Und
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