Leben bis zum Anschlag
Moment vor Mehmets Rad. Vorderrad an Vorderrad versucht sich Dali auf seinem stehenden Rad zu halten.
»Wo ist Nora?«, fragt Mehmet. Er verzieht keine Miene.
»Wahrscheinlich noch drin.« Das Rad kippt und Dali springt ab. »Willst du sie abholen?«
»Sie hat mir’ne SMS geschickt, will mir was vorspielen. Weißt du, was sie meint?«
»Nee, aber ich muss dir auch was zeigen.« Dali kramt die Coverdruckproben aus der Tasche und hält sie Mehmet hin.
»Schön trashig«, ist seine ehrliche Meinung, nachdem er circa zwei Sekunden drauf gekuckt hat.
»Du kannst mich mal«, knurrt Dali. »Ich hab keine Chance, deine bis zum Anschlag aufgedrehte Musik oder Noras Lieder nicht zu hören …«
Mehmet achtet nicht auf Dali, er hat Nora entdeckt. O Mann! Nora in Shorts.
Schlagartig wird ihm bewusst, dass ihm sein T-Shirt am Leib klebt, nass geschwitzt.
Dali regt sich noch mehr auf, weil Mehmet ihn überhaupt nicht beachtet. »… aber ihr arroganten Ärsche ignoriert beschissen selbstgefällig meine stille Kunst!«
Der sieht original beleidigt aus, denkt Mehmet. Stille Kunst? Das kann doch nicht sein Ernst sein! »Ich kenn bloß Stille Nacht und Stille Post«, sagt Mehmet und lacht sich schlapp über seinen eigenen Witz
»Was ist denn hier los?«, fragt Nora und grinst angesichts des Lachanfalls.
Dali überlässt die beiden sich selbst. Seine Kunstreferendarin, Janina Joh, schließt eben ihr Fahrrad auf. Frustriert geht er auf sie zu und fragt: »Gibt es Untersuchungen über die Arroganz von Musikern gegenüber bildenden Künstlern?«
So ad hoc fällt Janina Joh nichts ein. Sie macht eine fragende Kopfbewegung zu Mehmet hin, obwohl der nicht ihren Vorstellungen eines wahren Musikers entspricht.
Mehmet hängt über dem Lenker und kiekst: »Stille Kunst«, Lachsalve. »Stille Post«, schluchzend. »Stillleben«, seine Stimme bricht.
»Was hast du da?«, fragt die Referendarin Dali, der nicht reagiert. Sie meint die Druckbögen in Dalis Hand.
»Nichts«, sagt Dali und sieht Mehmet und Nora nach. »Der Lachsack mit dem Fahrrad ist ein super Deejay. Den könnte man fast schon als Komponisten bezeichnen. Und Nora schreibt witzige, schräge, schöne Lieder. Das kann ich beurteilen.« Pause. »Sie sind meine Freunde, aber wenn ich ihnen meine Bilder zeigen will, interessiert sie das einen Scheiß.«
Für Janina Joh sind Schüler ernst zu nehmende Menschen, aber eben welche, die sich noch in der Lernphase befinden. Sie kennt Dalis Grafti und weiß, dass er gut ist. Es beeindruckt sie, dass er künstlerischen Respekt vor den Arbeiten seiner Freunde hat.
»Hast du einen Moment Zeit?«, fragt sie.
Dali nickt.
»Zeigst du mir, was du gemacht hast?«
Dali nickt und vermisst plötzlich schmerzhaft seine nächtlichen Sprühaktionen. Mann, er hat immer Bilder gemacht, wie und wo es ihm gefallen hat und egal, was andere davon gehalten haben. Im Gegenteil, je mehr er die Leute damit provoziert hat, desto glücklicher ist er gewesen. Und jetzt muss er sich jeden Scheiß von Leif absegnen lassen, bevor es Geld gibt. Und die Kohle ist eine wahrhaft magere Entschädigung für den mangelnden Spaß, den er dabei hat.
Mehmet reibt sich Lachtränen aus den Augen. »Ihr ignoriert meine stille Kunst«, zitiert er Dali mit Kieksstimme.
Nora kann ihn kaum verstehen. Aber Mehmets Lachen ist ansteckend, also muss sie auch lachen und winkt Dali zu.
Lacht doch, ihr Idioten, ich hab ein Date mit der schönsten Referendarin und begehrenswertesten Lehrkraft aller Zeiten, denkt Dali.
Das mit dem Date stimmt nicht.
Janina Joh hat Interesse an seinem künstlerischen Schaffen, ausschließlich an seinem künstlerischen Schaffen. Er ist Schüler, sie Referendarin. Sie ist knappe sieben Jahre älter als er und verwechselt gar nichts: weder ihre Rolle noch ihre Aufgabe, weder Arbeit noch Vergnügen. Maximal erreicht dieser merkwürdige Bayer mit seinem schrägen Charme eine gewisse Irritation bei ihr.
Das ist alles. Und das ist nicht strafbar.
»Das ist gut.«
Dali, erfreut: »Echt?«
»Sonst würde ich’s nicht sagen. Ich finde die Ratte mit den Lautsprechern auf ihren spitzen Ohren witzig. Ist es ein Paste-up?«
Dali nickt und erklärt: »Ich hab sie auf Makulaturtapete gemalt und ausgeschnitten und außen auf die Clubwand gekleistert. Von meinen Freunden hat sie bis jetzt noch keiner entdeckt.«
»Wie viele CDs gibt der Club im Jahr raus?«
»Unterschiedlich, von monatlich bis vierteljährlich. Für jede mach ich ’ne neue
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