Leben (German Edition)
Flur und im Wohnzimmer hingen Aufnahmen seiner Stiere und Plakate der Corridas, an denen er teilgenommen hatte, sein Name stand immer an erster oder zweiter Stelle, er muß ein in Mexiko bekannter Stierkämpfer gewesen sein. Ich schlief in einem Gästezimmer, Gloria, die, obwohl überhaupt nicht dick, von allen nur La Gorda genannt wurde, schlief mit ihrer Mutter in einem anderen Teil des Hauses, ihr Vater, der in Mexiko-Stadt geblieben war, durfte von meiner Anwesenheit nichts wissen. Vormittags gingen wir an den Strand, mittags aßen wir frische Krabben mit Chili und Zitrone in einer der Strandhütten, die aussahen, als wären sie aus Treibholz gezimmert worden, tranken Kaffee oder frische Kokosmilch aus einer Kokosnuß, die der Strandhüttenmann mit einer Machete geöffnet hatte, Glorias Großvater freute sich über Gebäck aus der Pastelería. Jahre später, Gloria war verheiratet und hatte zwei Kinder, erzählte sie mir, er habe noch lange nach mir gefragt.
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Es wird hell, und ich sehe die Gesunden frisch geduscht zur Arbeit eilen, die nicht Ausgeschlafenen und Morgenmüden, sie spazieren vorbei, schreiten aus oder trödeln. Die Schwester kommt ins Zimmer und sagt, guten Morgen, haben wir schon Temperatur gemessen? Das sagt sie in jedem Zimmer, jeden Tag.
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In einem anderen Nachtbus kam ich nach Guanajuato, die für ihre Silberminen und Mumien bekannte Stadt. Ich hatte mir eine mexikanische Literaturgeschichte gekauft, eine Art Schulbuch, in dem ich während des Abendessens auf der Plaza den Abschnitt über die Nonne und Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz und den über Juan Ruolfos Pedro Páramo las. Ich genoß das Gefühl, daß niemand in Europa wußte, wo ich war.
Das Hotel, in dem ich mich einquartiert hatte, war in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts für die Minengesellschaft erbaut worden, seitdem hatte sich dort kaum etwas verändert, die Armaturen im Bad, die Lampen und Möbel stammten noch aus dieser Zeit, der eine der beiden Wasserhähne über dem Waschbecken ließ sich nicht mehr zudrehen, das Wasser lief Tag und Nacht. Zweimal besuchte ich das Museum mit den Mumien, das Glorias Großvater mir empfohlen hatte, oben auf einem Berg inmitten eines Friedhofs, noch viel höhere Berge drum herum. Bei den Mumien in diesem Museum handelte es sich im strengen Sinne gar nicht um Mumien, sondern um ehedem normal bestattete Leichen, die in dem trockenen, mit Silbersalzen gesättigten Boden einfach nicht hatten verwesen können, sie waren bloß ausgetrocknet, die Erde hatte sie so, wie sie bestattet worden waren, fixiert und imprägniert. Die jüngsten Toten, die aufrecht stehend hinter Glas gezeigt wurden, waren vor knapp vierzig, die ältesten vor hundertfünfzig Jahren gestorben. Alle waren sie nackt, weil die Kleider sich zersetzt hatten, nur die beiden jüngsten Toten trugen noch Socken – sie bestanden aus Kunstfaser und waren daher nicht verrottet.
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Ich habe, das muß mir nun natürlich einfallen, auch meine Mutter noch einmal gesehen, in der Leichenkammer des Krankenhauses, in dem sie gestorben ist. Sie lag auf dem Tisch, ein Körper, der mir kleiner vorkam, als ich ihn in Erinnerung hatte, besonders ähnlich sah er meiner Mutter nicht, mir schien, als wäre sie geschrumpft. Mein Vater war mit mir in dieses Krankenhaus gefahren, mindestens eine Autobahnstunde von unserem Zuhause entfernt, ein Klinikmitarbeiter hatte uns im Tiefgeschoß durch ein Labyrinth von Gängen geführt, hatte uns die Tür zur Leichenkammer aufgesperrt, den entsprechenden Tisch gezeigt und das Tuch, das über meiner Mutter lag, zurückgeschlagen. Und war gegangen. Und da stand ich nun, zwölf Jahre alt, ein Junge in einem blauen Dufflecoat vor der Leiche seiner Mutter, und ich dachte, das kann nicht meine Mutter sein, die Sachen, die sie anhat, sind ihr viel zu groß. Ich weiß, daß noch mindestens zwei weitere Tote in diesem Raum lagen, unter ihren Leichentüchern waren von ihnen nur Umrisse zu sehen. Den höchsten Punkt, den Gipfel ihrer Leichentuchzelte, bildeten die Nasen.
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Ein Arzt kommt mit Studierenden ins Zimmer, er war gestern schon da und hat mein Einverständnis eingeholt. Ich soll noch einmal erzählen, wie alles anfing: Kurz vor ein Uhr in der Nacht komme ich aus dem Café Haliflor nach Hause, Christiane fährt mich, obwohl es nur ein paar Meter sind, bis vors Haus, ich bleibe noch im Auto sitzen, sie erzählt von der Idee zu einer Soloplatte, schließlich verabschieden wir uns, ich
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