Leben (German Edition)
steige aus, winke ihr hinterher und gehe hinauf in die Wohnung, setze mich in die Küche, löffle, nur weil ich Heimkehrhunger habe, Apfelmus und habe plötzlich ein sonderbares Gefühl im Hals. Ich gehe ins Bad, beuge mich zum Wasserhahn, will einen Schluck trinken und spüre, daß ich mich übergeben muß – aber so ausführlich erzähle ich es den Studierenden natürlich nicht, ich fasse mich kürzer, erwähne das Blut, das in die Wanne –
Danke, bis hierher erst einmal, unterbricht mich der Arzt, heute in der Dozentenrolle. Und fragt in die Runde: Was ist denn da passiert?
Stille, Zögern, Schülerschweigen, ich kenne das noch. Bis eine Studentin die Hand hebt und sagt: Handelt es sich um eine Blutung der Varizen?
Ich bin erleichtert. Auch diese angehende Medizinerin, dunkle Haare, Lippenstift, ihr Mund gefällt mir, hätte gewußt, was zu tun ist, hätte mir Kochsalzlösung gegeben, hätte mich gerettet. Und sie weiß auch, daß mir in diesem Stadium, Child Pugh B, nur eine Transplantation noch helfen kann.
Die anderen fragen nach: Hepatitis C?
Nein, Autoimmunhepatitis, sage ich, chronisch-aggressive Autoimmunhepatitis.
Die kriegen sie nicht so oft zu sehen.
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Apfelmus. Eigentlich mag ich Apfelmus gar nicht, meist ist es viel zu süß. Wie gut, daß Apfelmus nicht meine letzte Mahlzeit war. Irgendwann, ich war noch ein Kind, habe ich zu meiner Mutter gesagt, wir aßen gerade eine Tomatensuppe: Eine Tomatensuppe soll das letzte sein, was ich in meinem Leben esse. Woran ich nun immer denken muß, wenn es irgendwo Tomatensuppe gibt. Seither esse ich keine Tomatensuppe mehr, ja ich gebe zu, ich habe Angst vor Tomatensuppe, ich versuche, es zu vermeiden, Tomatensuppe zu essen, nenne sie dünne Tomatensauce oder esse nach Tomatensuppe immer ganz schnell noch etwas anderes. Tomatensuppe zu essen ist mir zu gefährlich, denn meine Mutter war gar nicht lange nach unserer letzten gemeinsam gegessenen Tomatensuppe tot.
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Ich sehe einen Gartentraktor, der einen Anhänger voller Standaschenbecher hinter sich herzieht, spitz auf spitz übereinandergesetzte Doppelkegel. Rauchen erdrückt, stand früher auf den Plakaten der Krankenkasse. Eigentlich erdrückt ein Raucher aber nur die Stummel seiner Zigaretten. Die Standaschenbecher aus grauem Eternit oder einem ähnlich altmodischen Material sind wohl, das kann ich von hier oben gerade so erkennen, für den anbrechenden Raucherfrühling mit frischem Sand gefüllt worden.
Sonne und Schatten im Krankenhauszimmer.
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Mein Bettnachbar fängt unvermittelt an zu erzählen: Vor fünfzig Jahren habe er hier mit dreißig Mann in einem Saal gelegen, die Schwestern hätten Mullbinden zum Aufrollen verteilt, das Verbandszeug sei damals noch gewaschen und wiederverwendet worden, so hätten sie immer was zu tun gehabt. Heute lande ja alles, aber das sei ihm auch lieber so, im Müll. Dann schläft er ein, er schnarcht, mich aber stört das nicht. Ich habe abgelegt, ich treibe auf meinem Floß, ich bin meine eigene Insel, drifte über meinen Ozean, weit weg ins Archipel Irgendwo, Kreuzfahrt durchs Ich und dieses Krankenhaus.
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Wie viele Tage liege ich schon hier? Ich hätte Striche an die Wand machen sollen. Vier nebeneinander, einen fünften schräg hindurch. Die Schwester sagt, es gebe Patienten, die ihren halben Hausrat mitbringen, sie sagt das so, als mache sie sich darüber lustig. Manche benutzen ihre eigenen Kopfkissen und Handtücher, ich habe nicht einmal einen eigenen Schlafanzug dabei, den müßte ich ja waschen. Ich mag die Nachthemden, jeden Tag ein frisches, ich bin das Nachthemdgespenst, aufrecht im Bett, nur die Nachtmütze fehlt.
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Ich hätte gern eine kleine Lampe. Das Licht über dem Bett ist zu hell, ich möchte meinen Bettnachbarn nicht wecken. Also höre ich Radio, das Nachtkonzert der ARD, später, bis mir auffällt, daß ich einen Beitrag höre, den ich schon tagsüber gehört habe, BBC World Service, der Mond scheint durchs Fenster, sieht aus wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Unglaublich, denke ich, jemand ist mal bis zum Mond geflogen. Eines Tages wird es heißen, das sei ein Märchen.
Plötzlich, es ist drei Uhr, landet ein Hubschrauber in der Idylle, nachts hören Hubschrauber sich noch viel lauter an als am Tag. Dann ist es fast wieder still, Sterne leuchten, ich kann nicht schlafen und höre, wie ein Infusionsständer über den Flur geschoben wird.
Ich schlafe vielleicht doch noch ein.
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Als die
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