Leben (German Edition)
ich hinzu, wolle ich weiter für meine Tochter dasein, meistens jedenfalls, oft aber komme mir das bloß wie ein Trick vor, der Kindertrick eben, mit dem ich mich zum Bleiben überreden würde. Ich weiß noch, daß ich in dem Moment zu heulen anfing, in ihrem kleinen Arztzimmer, auch vor ihrem Fenster stand ein Kastanienbaum. Sie verschrieb mir ein Antidepressivum, einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, ein Medikament, das ich mal nahm und dann wieder nicht, weil ich mir einbildete, die Depression zu brauchen.
Und ich erinnere mich an den Termin bei der Anästhesistin, die mir erklärte, was am Tag X passiert. Ich hörte ihr gar nicht richtig zu, starrte, während sie sprach, den Literatur-Abreißkalender auf ihrem Schreibtisch an, das Blatt für den Tag zeigte ein Bild von Peter Handke. Kommt der Anruf, sagte sie, dürfen Sie nichts mehr essen, ein Krankenwagen oder, je nachdem, wo Sie sich gerade aufhalten, auch ein Hubschrauber wird Sie abholen und in die Klinik bringen, Station 21i, die Operation wird wahrscheinlich, wenn sie komplikationslos verläuft, sechs oder sieben Stunden dauern, vielleicht auch länger.
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Vielleicht auch länger. Wer weiß. Ich schaue auf den Notfallknopf, wozu aber sollte ich den drücken? Ich erinnere mich ja bloß an diese seltsame, sich über fast zwei Wochen hinziehende Prüfung, die ich schließlich bestand, ohne dafür gelernt, ohne etwas dafür getan zu haben, ich kam einfach durch. Da zieht die fröhliche, rotblonde Ärztin mich aus der Röhre und sagt: Vorbei.
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Ich mußte noch eine Unterschrift leisten. Der Chirurg, Demiurg, Chef der Transplantationsklinik wollte mich sehen und sprechen, wollte mich in Augenschein nehmen und begutachten, bevor ich unterschreibe. Er stand mir gegenüber, ein gesund aussehender, braungebrannter, halbwegs sportlich wirkender Mann Ende Fünfzig, musterte mich und sagte: Sie wirken ja gar nicht wie jemand, dem ich eine neue Leber transplantieren müßte, Sie sehen viel zu gesund aus. Und formulierte damit genau die Bedenken, die ich selbst hatte. Ging es mir nicht zu gut? Konnte ich nicht so weitermachen? Dann aber schaute er in meine Krankenakte, sah die Werte, änderte seine Meinung und verabschiedete sich, er hatte nicht viel Zeit.
Kurz darauf saß ich, denkwürdiger Nachmittag, allein in einem halbdunklen, fensterlosen Raum neben dem Transplantationsbüro. Vor mir auf dem Tisch ein Stapel Papier, der Vertrag in dreifacher Ausführung, alle Seiten eng bedruckt. Ich saß da und sollte unterschreiben. Sollte mich damit einverstanden erklären, daß mir eines Tages, möglichst bald, vielleicht in fünf Wochen, vielleicht in sechs Monaten, vielleicht in zwei Jahren, vielleicht überhaupt nicht mehr, weil ich vorher gestorben bin, ein Organ herausgeschnitten und ein anderes, neues eingesetzt wird – was aber heißt neu , neue Organe sind immer gebrauchte Organe, Organe von Toten, dachte ich und versuchte, den Vertragstext auf den Blättern zu lesen, was mir nicht gelang, ich sah bloß Buchstaben und Wörter und kam nicht dahinter, wie sie zusammengehörten oder was sie bedeuten sollten. Ich überflog den Text, merkte, daß ich nur so tat, als ob ich läse, hielt meinen Füller aber in der Hand.
Die Absurdität dieser Situation war mir bewußt: Wann, dachte ich, kann ein Mensch sich schon mit einer Unterschrift für ein mögliches Weiterleben entscheiden? Ein paarmal mußte ich Miet- und Kaufverträge unterschreiben, ich bin bereits öfter bei einem Notar gewesen, nun jedoch, dachte ich, ging es um mehr. Mit meiner Unterschrift konnte ich mir eventuell Lebensjahre kaufen, ohne zu wissen, ob und wieviel und in welcher Währung ich wann für diese Verlängerung bezahlen müßte. Und mich überkam wieder diese Angst, ich könnte, gelänge die Operation, zu gesund werden, nicht mehr krank genug sein, nicht mehr der sein, der ich war. Meine Hand fühlte sich feucht an, fast naß, schwitzte sie so sehr? Nein, meine Hand war blau, war voller Tinte. Der Füller, den ich seit Jahren mit mir herumtrug, der Füller, ohne den ich nie das Haus verlassen hatte, war ausgelaufen, ausgerechnet an diesem Nachmittag. Wollte er nicht unterschreiben?
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Morgens, mittags, abends, nachts. Tagschwester, Nachtschwester, Visite, Bereitschaftsarzt. Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, sonnabends Eintopf, sonntags keine Visite. Mehr habe ich mit der Zeit nicht zu tun, es herrscht Gleichzeitigkeit. Hier gibt es eine Bühne, auf der sie tanzen, die
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