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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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gebaut wurde ja viel in West-Berlin. Wir haben immer gut verdient, schön Schlechtwettergeld, Berlin-Zulage. Is nicht mehr. Er hat am Kottbusser Tor mitgebaut, hat im NZK, im Neuen Zentrum Kreuzberg, den Estrich verlegt, einem Komplex, den ich früher für besonders häßlich hielt, die Umdeutung dieser Bauten hat aber schon begonnen. Ich sage ihm, daß diese Gebäude auf ihre Art nun wieder schön gefunden würden, ja daß es dort Clubs und Bars gebe, das Möbel Olfe zum Beispiel, benannt nach der alten Leuchtschrift auf dem Dach, das West-Germany, den Südblock und die Paloma Bar.
    Jahrgang 1930. Er erzählt, das aber nur auf Nachfrage, auch vom Kriegsende in Berlin, vom Bombenkrieg und von den Bunkernächten, erzählt von seinem Onkel, der mit geplatzter Lunge im Luftschutzkeller saß, sah aus, sagt er, als ob er schlafen würde, dabei war er tot. Im März 1945 hat er sich dann freiwillig gemeldet, als Hitlerjunge, hat die letzte Festung S-Bahn-Ring mitverteidigt, zwei seiner Klassenkameraden sind noch gefallen, der eine an der Schönhauser Allee, der andere im Friedrichshain, er aber ist auf wundersame Weise davongekommen.

75
    Zwei Männer liegen in einem Zimmer, nichts passiert. Hin und wieder unterhalten sie sich, Gequatsche. Einer erzählt von früher, weil er schon sehr viel Früher hinter sich hat, erzählt vom Kriegsende in Berlin. In regelmäßigen Abständen schauen Frauen herein und fragen nach der Beschaffenheit des Stuhls, ob die Essenskarten ausgefüllt und die Medikamente eingenommen wurden. Vielleicht ist das absurdes Theater.

76
    Ich kann nichts tun, ich muß nichts tun, hier bin ich das Kind, ich darf, ich soll, ich muß, ich kann nur liegen. Brauche ich etwas, läute ich, halten meine Wünsche sich im Rahmen, werden sie erfüllt. Sonst, draußen in der Wirklichkeit, funktioniert das nicht so gut.

77
    Der Baum vor dem Fenster hat kaum noch Blätter. Unten fährt eine Kehrmaschine vorbei, Rotationsbürste vorn, sie fegt das Laub vom Gehweg. Die Blätter der Kastanien müssen bei fünfundsechzig Grad kompostiert oder mit einer Schicht von mindestens zehn Zentimetern Erde bedeckt werden, sonst überleben die Larven der Miniermotte den Winter. Höre ich meinen Bettnachbarn sagen.
    Später unterhält er sich mit der Stationsschwester über Gartenbaubetriebe, Baumarbeiten und Laubsammeln. Vierundzwanzig Säcke Laub habe sie aus ihrem Garten abfahren lassen, sagt die Stationsschwester. Das hört sich an wie Angeberei.
    Ein Vogel landet auf einem der sehr dünnen Äste in der Krone. Ohne Blätter sehen Bäume so zerbrechlich aus, merkwürdig, daß der Zweig, auf dem der Vogel sitzt, nicht bricht. Was ist das eigentlich für ein Vogel? Eine Krähe?

78
    Ich liege in einem riesigen Raumschiff, die Schwestern sind gutprogrammierte Pflegeroboter. Aber wenn Roboter sich schon so gut programmieren lassen, wozu braucht das Raumschiff dann uns? Sind wir Patienten-Passagiere nicht längst überflüssig? Wozu werden wir am Leben erhalten, gefüttert und gewaschen? Warum werden wir nicht eingeschläfert wie der kranke Hund unserer Nachbarin – damals, als das passierte, ich war sechs Jahre alt, hörte ich das Wort zum ersten Mal. Einschläfern , das fiel mir schon als Kind auf, klingt viel seriöser und rücksichtsvoller als töten .

79
    Die Tür zum Schrank steht einen Spalt offen, ich sehe meine braune Reisetasche. Oft war ich mit ihr unterwegs, vielleicht war auch sie mit mir unterwegs, jedenfalls habe ich sie weit getragen, sie war in Italien, Spanien und Frankreich, immer über meiner Schulter.
    Was habe ich eigentlich dabei? Ich war schon lange nicht mehr am Schrank. Wieso aber steht die Schranktür offen? Bin ich doch dort gewesen, oder hat sich jemand am Schloß zu schaffen gemacht? «Schlüssel bei Entlassung bitte steckenlassen», steht auf dem Schild, das an der Schranktür klebt. Ich habe es schon oft gelesen, will es nie wieder lesen, will es nie wieder lesen müssen, aber alles, was irgendwo geschrieben steht, muß ich lesen, oft sogar laut, ein Reflex, der sich nicht abstellen läßt.
    Ja, ich werde ihn steckenlassen, den Schlüssel. Ich möchte gar keinen Krankenhausschrankschlüssel mit nach Hause nehmen. Im Schrank gibt es ein kleines Schließfach für Wertgegenstände, in ihm liegt mein Portemonnaie, das ich hier nicht brauche. Verlasse ich das Zimmer, schließe ich auch den iPod und das Telefon ein, es werde leider nicht selten gestohlen, warnt die Schwester. Es sei auch schon vorgekommen,

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