Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
Vom Netzwerk:
erzählt der Bauarbeiter, daß ein Schlüsselbund vom Krankenhauspersonal entwendet und eine Wohnung in aller Ruhe ausgeräumt worden sei. Und wie zur Bestätigung liest er mir zwei Tage später etwas aus der Zeitung vor:
    Drei Jahre Haft erhielt ein 37jähriger Wiener Stationsarzt, der nach Dienstschluß in Patientenwohnungen eingebrochen war. «Ich habe schon in meiner Studienzeit gepokert, die Einsätze wurden immer höher», sagte er im Prozeß. Um weiterspielen zu können, entwendete er Wohnungsschlüssel, fand er keinen, benutzte er Brecheisen. Er stahl Schmuck, Bargeld, Goldbarren, Kreditkarten und Münzen und wurde erst gefaßt, als er in eine Wohnung eindrang, in der sich eine Person befand. Er versuchte zu fliehen, wurde jedoch überwältigt.

    Wo ist eigentlich mein Schlüsselbund? Ich habe ihn schon länger nicht gesehen. Liegt er im Schrank? Im Schließfach? Sonst hatte ich ihn jeden Tag mehrmals in der Hand.

80
    Gern würde ich jetzt unten, gleich am Wasser, den Treidelpfad entlangwandern, am Kraftwerk vorbei und unter den neuen, hohen Eisenbahnbrücken hindurch, die zum Hauptbahnhof führen, immer am Kanal entlang, unter den Hochspannungsleitungen oberhalb des grünen, dichtbewachsenen Uferpfads hinter der Föhrer Brücke, am grüngrau gestrichenen Schienenkran vorbei, der Kohle aus den Lastkähnen baggert, über die Lochgittergalerie, durch Schwärme von Spatzen und unter wuchernden Ahorn- und Götterbäumen, Birken und Traubeneichen hindurch bis zur Pankemündung, die genaugenommen nur ein Nebenarm der Panke ist, malerisch treibt in ihrem Vorhaltebecken der Müll. Prometheus aber liegt gefesselt auf seinem Stein, der Adler fliegt herbei, stößt herab und frißt von seiner Leber.

81
    Einer, der diese Woche neben mir liegt, sagt kein Wort. Er sagt morgens nicht guten Morgen und abends nicht gute Nacht, ich sage auch nichts mehr. Ich kann nicht behaupten, daß mich das wirklich stört, es ärgert mich kurz, ist mir dann aber egal. Jeder ist in seiner eigenen Welt.

82
    Wann habe ich sonst mit mir völlig unbekannten Menschen in einem Zimmer geschlafen? In einem Hostel in New Orleans? In einer Jugendherberge in Straßburg? Ich erinnere mich an einen Schwätzer, der mir die halbe Nacht Geschichten erzählte, erinnere mich an einen Chilenen in Chicago, der mich in Berlin besuchen kommen wollte, erinnere mich an Nachtzug-, Nachtflug- und Nachtbus-Bekanntschaften. Und damit auch an die blonde Südafrikanerin, die ich in Oaxaca kennenlernte, wir waren zu viert unterwegs, eine Französin aus Lille, ein Amerikaner aus Oregon, die weiße Südafrikanerin, die in London wohnte, und ich. In San Cristóbal de las Casas mieteten wir uns Pferde, gingen reiten und warteten, ja hofften eigentlich sogar darauf, von Zapatistas überfallen zu werden, wir hätten unseren Beitrag zur Revolution, die sogenannte Revolutionssteuer, gerne entrichtet. Der Subcommandante Marcos mit schwarzer Gesichtsmaske und Pfeife war damals ein Popstar, der Bewunderer aus der ganzen Welt in die Selva Lacedemonia lockte. Wir wurden dann allerdings nicht überfallen, nur zweimal vom mexikanischen Militär kontrolliert. Nach drei Tagen in San Cristóbal setzten wir uns in den Bus nach Palenque, wanderten zwei Tage durch die Ruinen, bevor wir zu den Wasserfällen von Agua Azul fuhren, ein gutes Stück mußten wir durch den Urwald laufen, türkisfarbenes Wasser hatte ich so noch nicht gesehen. Die Südafrikanerin, sie hieß Saskia, lackierte mir die Fußnägel blau, sie war aus irgendeinem Burenkaff in Transvaal nach England geflüchtet, wir sprachen Englisch, ihr Tagebuch und ihre Gedichte aber schrieb sie in Afrikaans. Immer wenn ich ihr Sommersprossengesicht ansah, hatte ich dieses Hier-und-jetzt-Gefühl, jetzt war sie hier, in diesem Augenblick, an diesem Ort, irgendwo in Mexiko, ich hätte, tausend Zufälle, doch auch anderswo sein können, wir aber waren uns hier begegnet. Es mußte also, das dachte ich damals noch, etwas bedeuten.

83
    Der Transport schiebt mich wieder über Flure, die auf ein Stück Mullbinde gefädelten Schlüssel zum Schrank und zum Schließfach liegen unter meinem Kissen. Ich könnte sie mir wie ein Freundschaftsbändchen ums Handgelenk binden oder sie wie die iranischen Kindersoldaten bei mir tragen, die, als sie in den Iran-Irak-Krieg ziehen mußten, billige, aus Blech gestanzte Schlüssel an einer Halskette hängen hatten. Sie sollten glauben, diese Schlüssel öffneten die Pforten zum Paradies. Daran erinnere ich

Weitere Kostenlose Bücher