Leben (German Edition)
nachgewiesen werden. Nach adäquater Volumensubstitution blieb Patient W. hämadynamisch stabil, so daß er mit stabilen Herz-Kreislauf-Verhältnissen sowie guter Leberfunktion auf die Normalpflegestation verlegt werden konnte.
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Ich werde aus der Intensivstation hinausgeschoben, auf Wiedersehen, schöne Aussicht. Es geht ein Stockwerk tiefer, hinunter auf die Normalstation, in ein neues Zimmer. Und wieder habe ich Glück, ich werde auf der Fensterseite geparkt, Ausblick nach Süden. Hell ist es, heiß ist es. Draußen muß ein toller Sommer sein.
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Auf dem Bett an der Schrankseite sitzt ein Mann und spielt mit einem Apfel. Er ist angezogen, er soll gleich entlassen werden, seine Tasche ist gepackt. Er wartet auf das Abschlußgespräch mit dem Arzt. Immer wieder steht er auf, geht zum Fenster, sieht hinaus, geht zurück zu seinem Bett, wirft seinen Apfel, ein Nachtischapfel offenbar, in die Luft, fängt ihn, dreht ihn in der Hand und wirft ihn wieder hoch. Sein Telefon klingelt, er spricht mit seiner Frau. Er sagt: Nein, fahr bitte nicht los, ich warte noch auf den Arzt. Er geht weiter hin und her, spielt mit dem Apfel.
Schließlich kommt der Arzt, und er hat keine gute Nachricht. Ich liege da und höre zu, ich kann nicht anders, kann ja nicht aufstehen und hinausgehen, kann mir nicht einmal die Ohren zuhalten. Ich höre, daß mein Bettnachbar nicht mehr operiert werden kann. Tut mir leid, sagt der Arzt, wir können nicht transplantieren, der Krebs hat sich zu weit ausgebreitet, es tut mir sehr leid.
Der Mann, seinen Namen habe ich nicht verstanden, wir haben uns bloß guten Tag gesagt, als ich ins Zimmer geschoben wurde, weiß jetzt, daß er bald, sehr bald, dieses Jahr noch, in zwei oder drei, vielleicht auch erst in vier Monaten, tot sein wird. Er weiß das, der Arzt weiß das, ich weiß das, denn Leberkrebs, das geht ganz schnell. Er dreht den Apfel am Stiel, läßt ihn zwischen Daumen- und Zeigefingerkuppen kreiseln, der Fruchtstiel wird bald brechen.
Als der Arzt das Zimmer verlassen hat, fängt der Mann an zu weinen. Er fängt nicht bloß an zu weinen, er bricht in Tränen aus. Er steht am Fenster, ganz nah an meinem Bett, und heult. Ich weiß, warum, und kann nichts sagen. Sollte ich sagen: Tut mir leid, daß ich operiert werden konnte, Sie aber nicht?
Er nimmt sein Telefon vom Nachttisch, ruft seine Frau an und sagt: Du mußt nicht kommen. Nein, höre ich ihn sagen, bitte komm nicht, ich fahre allein nach Hause, ich nehme ein Taxi.
Von der Tür aus, er hat seine Tasche in der einen, die Klinke in der anderen Hand, eine dünne Jacke liegt über seinem Arm, winkt er mir zu und wünscht mir alles Gute. Das wünsche ich ihm auch.
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Als ich aufwache, steht ein neues Bett da, ein Bett, aus dem es leise schnarcht. Ich sehe einen Schopf weißes Haar auf dem Kissen.
Eine Ärztin kommt ins Zimmer, sie hat auffallend rote Haare und trägt statt eines weißen Kittels blaue OP-Kleidung. Sie fragt, wie es mir gehe, ob ich Schmerzen hätte und wo ich die auf einer Skala von eins bis zehn verorten würde. Ist eins «fast schmerzfrei»? Und zehn «der Schmerz ist unaushaltbar»? Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
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Milch am Himmel, fünf Uhr früh. Eine Turbine jault in der Ferne, ich sehe die Türme des Kraftwerks, einen einsamen innerstädtischen Hochleistungsmasten und einen grauen Wolkenfleck im Himmelblau. Dann klettert die Sonne über die Flachdachkante gegenüber. Der ursprünglich weiß-orange geringelte, nun aber wettergraue Windsack leuchtet auf und grüßt, er hebt sich müde und sackt in sich zusammen, offengehalten bloß von einem Ring. Eigentlich soll er den Hubschrauberpiloten anzeigen, woher der Wind weht.
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Warum steht mein Großvater plötzlich hier? Und spricht von einem Kameraden, der an einem Bauchschuß starb, neben ihm im Graben? Sonst hat mein Großvater nie vom Krieg erzählt. Nur von dem Kompaß hat er immer wieder angefangen, dem Kompaß, den er während der Gefangenschaft in seiner Unterhose versteckt hielt, weil er wußte, den würde er noch brauchen. In Ungarn geriet er in russische Kriegsgefangenschaft und hatte Glück, er mußte nicht nach Sibirien, er war wohl schon zu alt, 1945 war er fünfzig, dieser Weltkrieg war schon sein zweiter. Und ich vermute, die Bauchschußgeschichte stammt aus dem ersten.
Jetzt steht er also hier an meinem Bett – wie ist er eigentlich in dieses Zimmer gekommen? Ist er nicht schon lange tot? Er kann doch gar nicht mehr am Leben
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