Leben im Käfig (German Edition)
verging eine Ewigkeit, bis er den Zugang zum Gelände erreicht hatte. Ihm war übel. Er atmete durch den Mund, um dem Druck in der Lunge entgegen zu wirken. Endlos zog sich die Hecke vor seinem Auge entlang. Unerreichbar war der Zaun des Nachbargrundstücks. Schwindelig.
Mit dem ersten Schritt auf den Bürgersteig war es schlagartig vorbei. Alles passierte auf einmal. Die Pflastersteine kippten ihm entgegen, der Sauerstoff wurde knapp und Schweiß rann über seinen Rücken. Seine Knie waren nicht länger Gelenke, sondern weich wie Pudding. In weiter Ferne wusste er, dass es unsinnig war, aber es interessierte ihn nicht länger.
Das Tier hatte versagt, geschlafen, war nicht für ihn da gewesen. Die Welt verengte sich und drängelte auf ihn zu. Ein Schwall Magensäure landete in seinem Mund und ließ ihn würgen.
Jeder Gedanke an Sascha, dessen Abwesenheit und überhaupt den Rest der Welt war vergessen, als Andreas auf dem Absatz kehrt machte und ins Haus rannte. Und oh Wunder, auf einmal funktionierten seine Beine, seine Knie, seine Füße hervorragend.
Die Tür flog ins Schloss und er auf direktem Weg in sein Zimmer. Er stolperte nicht, er strauchelte nicht.
Erst, als sich auch die zweite Tür hinter ihm geschlossen hatte, konnte er wieder einatmen. Hatte er vorher die ganze Zeit über die Luft angehalten? Er wusste es nicht. Er konnte es nicht. Schaffte nichts und überhaupt ...
Etwas knisterte und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das Geschenkpapier war zerrissen. In seinem Wahn hatte er die Finger tief hineingegraben und das schlichte, blaue Papier in der Luft zerfetzt. Es waren sogar feuchte Fingerabdrücke zu erkennen, die sich dunkel von der glatten Oberfläche abhoben. Glücklicherweise blieb ihm wenigstens die Peinlichkeit erspart, dieses verhunzte Päckchen abzugeben.
Atmen. Schlucken, um den Magen zu beruhigen. Er war in Sicherheit. Alles war gut. Oder?
Nein, war es nicht.
Am liebsten hätte Andreas das Geschenk an die Wand geworfen. Nur ein letzter Rest Selbstbeherrschung leitete seine Wut und seine Frustration um. Fast behutsam legte er das Paket auf das Bücherregal, bevor er mit blutleeren Lippen heftig gegen den Türrahmen trat. Wieder und wieder, bis die Kappe seiner Turnschuhe eingedrückt war und seine Zehen den ersten Schmerz meldeten.
Er fluchte lauthals und sah sich um; die dunklen Augen weit und aufgerissen wie bei einem Tier auf der Flucht. Es kotzte ihn an, dass er so schwach war.
Hatte er in ein baufälliges Flugzeug steigen wollen? Nein. Hatte ihm jemand eine Waffe an die Stirn gehalten? Nein. Hatte er eine schlimme Diagnose bekommen, die sein Leben bedrohte? Nein. War ein Unfall abzusehen gewesen? Nein. War überhaupt irgendetwas da draußen gewesen, was seine Reaktion erklärte? Nein. Und trotzdem war er hakenschlagend ins Haus geflüchtet.
Andreas fuhr sich mit den Händen durch die Haare, ertastete in seinem Nacken den Schweiß. Seine Kehle fühlte sich wund an. Nachwirkungen. Es würde gleich besser werden oder vielmehr hatte er das Schlimmste schon hinter sich. Jetzt musste er sich nur noch mit dem Gefühl, versagt zu haben, auseinandersetzen.
Zittrig machte er ein paar Schritte in den Raum und sah sich um. Die Wände und Möbel waren ihm vertraut wie gute Freunde. Er fühlte sich hier wohl. Warum also machte er solche Sachen? Er wusste doch, was passierte. Es war ja nicht so, dass er es in der Vergangenheit nicht wieder und wieder ausprobiert hätte. Was für ein Blödsinn, es wieder zu wagen, nur um sich eine Ohrfeige abzuholen. Man konnte vieles über Andreas sagen, aber ein Masochist war er nicht.
Ein Blinken auf seinem Monitor ließ ihn näher an den Schreibtisch treten. Nur langsam glitt das gerade Geschehene beiseite, um Raum für andere Überlegungen zu machen. Seine Konzentrationsfähigkeit ließ nach wie vor zu wünschen übrig, sodass es ihm schwerfiel, die Buchstaben zu einem sinnvollen Text zusammenzusetzen.
17:45: „Hey, Mann.“
17:52: „Bist du da?“
18:03: „Hm.“
18:07: „Bestimmt schläfst du. Ich habe BESTANDEN! Ich kann es selbst noch gar nicht glauben. Jetzt brauche ich nur noch ein Auto. Na gut, unwahrscheinlich, aber egal. Hör mal, melde dich bei mir, ja? Am besten per Mail. Ich bin heute Abend nicht da.“
18:47: „Immer noch nicht wach? Ich komme morgen so früh wie möglich rüber. Dann kannst du mich an der Playstation in Grund und Boden stampfen. Bis morgen und danke fürs Daumendrücken.“
Andreas war bedient.
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