Leben im Käfig (German Edition)
an denen Andreas Besuch bekam, wurde dieselbe Ansammlung von Holz, Angeln und Farbe zu den Pforten zum Paradies. Ähnlich, wenn auch in abgeschwächter Form, empfand er, wenn der Postbote kam und ihn belohnte, indem er ihm ein Paket mit einer lang ersehnten Sonderedition brachte.
Dann wiederum gab es Tage, an denen das Türblatt vor seinem inneren Auge zu einem Gitter mutierte, das zu seiner Vorstellung von einem Käfig passte. Er musste zugeben, dass dies nur noch selten vorkam.
Und dann waren da natürlich die Tage, an denen die Haustür wirklich nur das war, was sie war: ein Eingang (oder Ausgang), den er selten bis nie nutzte.
Heute war sie seine Guillotine.
Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Es mochte eine Stunde sein oder auch nur eine halbe. Mit angezogenen Beinen saß er auf dem untersten Absatz der Treppe und starrte auf seine Nemesis. Sein Verstand wusste, dass von der Tür keine Gefahr ausging. Sein Bauch dagegen wusste es nicht und eigentlich bestätigten die Erfahrungen der letzten Jahre, dass es durchaus ein Risiko gab. Trotzdem, von der rationalen Seite her machte es keinen Sinn. War es nun Dummheit oder Schwäche, die ihn davon abhielt, seinem Instinkt zu folgen? Was auch immer es sein mochte, es fühlte sich nicht gut an. Sonst nicht und besonders nicht heute.
Der Vergleich mit der Guillotine war nicht grundlos gewählt. Es fühlte sich jedes Mal an, als ginge er seinem Tod entgegen. Auf eine schwer zu beschreibende Weise war es auch sein Tod, denn sobald er die Schwelle hinter sich ließ und somit „geköpft“ worden war, konnte er sich auf nichts mehr verlassen. Seinem Geist entsprangen Reaktionen, die er vor wenigen Augenblicken noch als lächerlich empfunden hatte. Die Terrassentür ging noch, der Garten ging manchmal und allein das zeigte, dass es Unsinn war. Denn wie konnte die Vordertür schlimmer sein als die Hintertür?
Doch darum ging es nicht. Es ging darum, dass er sich Sorgen machte.
Saschas Abgang am Vortag hatte ihn enttäuscht. Andreas hatte sich gefreut, als er unerwartet hereinschneite. Wer was durcheinandergebracht hatte, war nicht wichtig. Es ging nur um die angenehme Überraschung und um den Gedanken an das Wochenende, das vor ihnen lag. Das Wochenende, wenn Sascha viel Zeit hatte und davon eine Menge bei Andreas verbrachte. Nicht seine gesamte Freizeit natürlich, aber immerhin.
Jetzt meldete er sich nicht, obwohl er es gesagt hatte. Gut, der Tag war noch nicht vorbei, aber Stunde um Stunde strich dahin und zerrte an Andreas' Nervenkostüm.
Was war los? Die offensichtlichste Lösung wäre, dass Sascha durch die Fahrprüfung gerasselt war und keine Lust hatte, sich nach dieser Klatsche mit anderen Leuten auseinanderzusetzen. Aber daran glaubte Andreas nicht. Vermutlich war er paranoid, aber er war sich fast sicher, dass die fehlende Nachricht etwas mit ihm zu tun hatte.
„Blödsinn“, murmelte er in sich hinein. Es war der Anruf gewesen. Es war alles bestens gewesen, bis Andreas gestern aus dem Badezimmer kam. Irgendetwas war in der Zwischenzeit passiert. Oder doch nicht? Hatte er selbst etwas getan oder gesagt, dass ...
Nein, hatte er nicht. Das hatte er in der Nacht schon überlegt und war zu keinem Ergebnis gekommen.
Glauben und Wissen waren in dieser Situation zwei unterschiedliche Paar Schuhe – einmal Wanderstiefel, einmal Flip-Flops quasi. Er wusste, dass er nichts falsch gemacht hatte, aber er glaubte trotzdem daran. Und er machte sich Sorgen.
Sascha redete nicht oft über seine Schwierigkeiten und gab sich stets Mühe, seine Empfindungen zu verbergen. Entweder war er nicht gut darin oder Andreas hatte eine besondere Antenne für den Freund entwickelt. Jedenfalls ahnte er es meistens, wenn sich Sascha über etwas geärgert hatte oder traurig war. Es war schwer, in solchen Momenten nicht die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu umarmen. Alles, was Andreas tun konnte, war ihm zu verstehen geben, dass er willkommen war.
Missmutig verzog er das Gesicht und betrachtete das Päckchen, das unschuldig neben ihm auf der Treppe ruhte und ihn doch verunsicherte. Es war eine Eingebung gewesen und er war ihr gefolgt. Wenn man seine Fahrprüfung bestand, verdiente man es, dass der Erfolg und die neu gewonnene Freiheit gefeiert wurden. So viel verstand sogar Andreas, für den der Gedanke, selbst den Führerschein zu machen, absurd war. Übertrieben hatte er es wahrscheinlich trotzdem. Was wusste er schon, wie man sich in einer solchen Situation
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