Leben im Käfig (German Edition)
verhielt?
Wieder wanderte sein Blick zur Tür. Sie zog ihn an und stieß ihn ab. Schon jetzt waren seine Knie weich, schon jetzt waren seine Fingerspitzen taub. Es wäre so leicht, den Gedanken fallen zu lassen. Er könnte es aussitzen. Sascha würde sich von alleine melden; früher oder später.
Dummerweise wollte Andreas wissen, was los war. Heute. Jetzt. Unterbewusst suchte er nach der Bestätigung, dass alles in Ordnung war. Nicht nur bei Sascha, sondern vor allen Dingen innerhalb ihrer Freundschaft.
Langsam, sehr langsam stand er auf und reckte das Kinn. In seinem Inneren schlummerte ein Tier ohne Namen; eingepfercht in eine Höhle, in die kein Tageslicht drang. Es war mächtig und stark, konnte rasend werden, wenn man es herausforderte. Aber es verlangte viel Futter, wenn man seine Kräfte in Anspruch nahm. Entsprechend konnte Andreas es nur selten wecken.
Ob es ihm heute gelingen würde, wusste er nicht. Aber wenigstens wollte er es versuchen, was mehr war, als er sonst von sich sagen konnte. Mit starrem Blick auf den Boden bückte er sich nach dem Päckchen und näherte sich der Tür. Er konzentrierte sich auf den Anblick der einzelnen Fliesen, bis die Schwelle in sein Blickfeld geriet. Erst dann fixierte er die Klinke und legte die freie Hand darauf. Durch die kleinen Fensterscheiben an der Seite schielte er nach draußen.
Ohne sich dessen bewusst sein, suchte er nach dem kürzesten Weg, dem sichersten Pfad.
Die Treppe war nicht weiter problematisch. Sie lag im Schatten des Hauses und sollte überwindbar sein. Auch der gepflegte Steinweg zwischen den Beeten entlang sollte sich mit ein paar tiefen Atemzügen machen lassen.
Danach wurde es schwierig. Die Villa war von Hecken umgeben, nach denen man schlecht greifen konnte. Erst beim Grundstück der Holmes würde es besser werden, denn dort gab es an der Frontseite einen niedrigen Zaun.
Wie es von da an weitergehen würde, wusste er nicht. Er hatte sich das Nachbargrundstück nie von vorne angesehen. Dumm nur, dass die Dämmerung noch eine ganze Weile auf sich warten ließ.
Was seine Eltern dazu sagen würden, wenn man sie darauf ansprach, dass Andreas über den Gehweg getorkelt war, durfte er sich gar nicht ausmalen. So ein Auftreten passte nicht zu ihrer Vertuschungspolitik. Und ihm war der Gedanke unangenehm, in seiner Schwäche beobachtet zu werden.
Sascha sehen oder nicht. Das war die Frage.
Wer sagt, dass er überhaupt da ist, kicherte sein Schweinehund. Pass auf, am Ende kriechst du auf dem Zahnfleisch nach drüben und er ist mit dem Auto unterwegs.
Er könnte ihm sein Geschenk da lassen. Ob es den Aufwand wert war, wusste er nicht. Aber es war eine gute Ausrede, denn die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Wenn es Sascha nicht gut ging, würde er zu Hause sein. Wenn er den Führerschein gemacht hatte, war er mit Sicherheit mit Tanjas Auto unterwegs. Der Wagen fehlte, das hatte Andreas schon überprüft. Wie es auch kommen mochte, er würde hinterher mehr wissen.
Es sei denn, es ist niemand da-ha , lockte es in seinem Inneren wieder. Komm schon, geh nach oben. Es ist es nicht wert.
Doch. Sascha war es wert. Musste es wert sein. Punkt.
Das gusseiserne Metall der Klinke war unter seinen Fingern warm geworden. Sacht, als könnte sie in seinen Händen zerbrechen, drückte Andreas sie nach unten. Ein feuchter Windhauch kam ihm entgegen. Seit Stunden hing feiner Regen in der Luft.
Das Geschenk wird nass, wollte sein Geist sich einen Ausweg bahnen. Und du hast keine Jacke an, um es zu schützen. Lass es bleiben.
Er konnte das Päckchen unter sein Hemd schieben. Mit zusammengepressten Kiefern trat er auf die Treppe hinaus. Die Haustür schloss er nicht. Es war besser, wenn sie offenblieb. Es würde sich schon niemand Zutritt verschaffen und wenn doch, war es ihm egal.
Egaler zumindest als die Vorstellung, mit einem Schlüssel herumzufuchteln, wenn er es eilig hatte.
Okay. Eine Stufe nach der anderen. Besser schnell als langsam. Langsam bedeutete mehr Zeit, um sich zu verlieren. Atmen. Nicht daran denken, wie viel Angst ihm das alles machte. Nicht daran denken, dass sich eine Schindel vom Dach lösen und ihn erschlagen konnte. Nicht daran denken, dass ein Auto just in diesem Moment in den Vorgarten rasen konnte. Nicht daran denken, dass er stolpern und sich den Hals brechen konnte. Nicht daran denken ... nicht daran denken ... Am besten gar nicht denken.
Schritt für Schritt für Schritt.
Es waren nur Sekunden, aber für Andreas
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