Leben im Käfig (German Edition)
Während er auf der Treppe gesessen und mit sich selbst gerungen hatte, hatte Sascha versucht, ihn zu erreichen. Die ganze Aufregung umsonst. Der Abend war gelaufen und er war sauer.
Auf sich selbst, auf Sascha, auf seine Unfähigkeit, auf den Führerschein, darauf, dass sie dank der schnellen Leitung im Netz nie Telefonnummern ausgetauscht hatten, auf die Leute, mit denen der Freund heute Abend seine Prüfung feierte, auf seine Eltern, weil die eh wieder nicht da waren, auf Ivana, weil ihre Frikadellen heute komisch schmeckten, auf das Wetter, weil ihn die Regentropfen am Fenster nervten und auf den Rest der Welt sowieso.
Die Tür abschließen, sich die Kleidung vom Leib reißen und ins Bett gehen waren eins. Heute wollte er niemanden mehr sehen. Dass kein gesunder Jugendlicher an einem Samstagabend vor acht Uhr ins Bett ging, störte ihn nicht.
Kapitel 20
Die Kapazität der Bar war erschöpft. Die vielen Besucher trieben die Temperatur in die Höhe und die Hintergrundmusik war unter dem Stimmengewirr kaum noch zu hören. Eine Mischung aus verschütteten Cocktails und Rasierwasser drängte sich unangenehm in seine Nase.
Sascha konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Laden seine neue Stammkneipe werden würde. Das Ambiente hatte etwas von einer Zweckehe zwischen einem abgehalfterten Bordell und einem explodierten Regenbogen. Dunkle Rottöne auf der einen Seite und schrille Malereien auf der anderen; dazu ein paar zugegebenermaßen sinnliche Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden, die aber in dem Wirrwarr aus Farben an Wirkung verloren.
Für heute Abend war es gut genug.
Den ganzen Tag über hatte er keine Ruhe gefunden. Zu viele Gedanken waren in seinem Kopf und vermischten sich mit Empfindungen, die er nicht haben sollte. Man begehrte seinen besten Freund nicht. Das war ein ehernes Gesetz. Entsprechend schob er die Ereignisse des Vortags beiseite, nur damit sie ihn zum unmöglichsten Zeitpunkt hinterrücks überfielen.
Dass er seine Führerscheinprüfung bestanden hatte, kam einem kleinen Wunder gleich. Prüfungsangst kannte er nicht, eher das Gegenteil. Wenn er Fehler machte, dann meistens am Ende. Dieses Mal hatte er es geschafft und er freute sich darüber. Aber nicht so sehr, wie er sollte.
Was würde ein normaler Teenager machen, wenn er seinen Lappen in Händen hielt? Sich ein Auto leihen und losfahren. Zum ersten Mal selbst in einen Drive-In fahren, auf die Autobahn, rund um die Stadt, egal wohin. Hatte er getan, auch wenn Tanja ihn begleitet hatte. Doch er war nicht bei der Sache gewesen.
Der Grund war ebenso einfach wie essenziell. Auch ohne überraschende Enthüllungen lief er in den letzten Wochen mit zu engen Hosen herum. Von daheim war er etwas anderes gewohnt. Er war nicht gerade jemand, der jeden Abend der Woche nach einem neuen Spielgefährten Ausschau hielt, aber die langen Nächte am See in diesem Sommer hatten ihren Zweck erfüllt. Die Auswahl war nicht groß gewesen, aber er hatte seinen Teil Spaß gehabt.
Seitdem er in Hamburg war, war vieles anders. Auf einmal fehlten ihm die vertrauten Gesichter und er war nicht Einzelgänger genug, um allein die Clubs zu erkunden. Auch kannte er niemanden, der ihn in die Szene eingeführt hätte. Lust, in einem Hardcore-Laden zu landen, in dem optisch wenig ansprechende Bären jedes Stück Frischfleisch mit den Augen auszogen, hatte er nicht. Also hatte er es aufgeschoben.
War es da ein Wunder, dass er nun ein wenig seltsam reagierte? Dass er auf Andreas' nackten Oberkörper ansprang? Sie waren Freunde. Da war es doch sicher normal, dass es ihm zu denken gab, dass Andreas seine Sexualität nicht leben konnte.
Nein, das hatte nichts zu sagen. Gar nichts. Testosteronüberschuss und Mitgefühl bedeuteten nichts.
Etwas dagegen unternehmen musste er trotzdem. Er hatte überlegt, ob er Andreas heute noch besuchen gehen sollte, sich aber dagegen entschieden. Es brachte ihnen nichts, wenn er nervös war und sein Freund es merkte. Auch wollte er ihn nicht anstarren oder mit seinem Geheimnis konfrontieren. Noch nicht.
Sascha selbst spürte einen viel zu großen Drang, sich zu offenbaren. Die Lüge um seinen Umzug hatte ihm von Anfang an nicht geschmeckt. Gerade jetzt war es wichtig, sich zu outen. Es wäre für sie beide besser. Sascha wusste, wie verloren man sich fühlte, wenn man merkte, dass man an langen Mädchenbeinen und Sanduhrfiguren nicht viel finden konnte. Wenn er Andreas das Gefühl geben konnte, nicht allein zu sein, ginge es
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