Leben im Käfig (German Edition)
Mal hatte Sascha schreckliche Sehnsucht nach Andreas. Denn einer Sache konnte er sich sicher sein: Andreas freute sich immer, ihn zu sehen.
„Ja, Kinder, dann lasst uns mal gehen?“, murmelte Karen Suhrkamp, bevor das Schweigen allzu peinlich wurde.
Sie ging voraus, die Treppe hinunter und umklammerte dabei den Saum ihres Mantels, der nicht im Schmutz schleifen sollte.
Hinter ihrem Rücken tauschten ihre Kinder einen Blick aus und verdrehten die Augen. Sascha war froh, dass Katja mit zum Bahnhof gekommen war.
Sie waren gerade auf dem Weg zum Parkplatz, als die Mutter mit einem Mal hektisch wurde und sagte: “Ach, wisst ihr was? Wir gehen eben noch in den Imbiss.“
Das kleine Restaurant, indem es Burger und Grillhähnchen gab, grenzte direkt an den Bahnhof an und verlockte mit erlesenen Düften. Die Stimmung konnte gar nicht so angespannt sein, dass Sascha dabei nicht das Wasser im Mund zusammenlief. „Ihr esst die Hähnchen doch so gerne. Wir nehmen ein paar mit. Das ist doch eine gute Idee, oder?“
Überrascht nickte Sascha, wollte gerade etwas sagen, als Katja leise schnaubte und in Richtung des Parkplatzes deutete. Er folgte ihrer Geste und erkannte die Mutter einer seiner ehemaligen Schulfreundinnen.
Ein Blick in das Gesicht seiner eigenen Mutter, und er wusste, warum sie auf einmal das dringende Bedürfnis verspürte, in den Imbiss zu stürzen. Sie wich der Bekannten und ihren neugierigen Fragen aus.
Die Geschwister blieben draußen, während ihre Mutter sich der Aufgabe stellte, ein paar tote Hähne für sie zu ergattern.
Kaum, dass sie die Tür des Imbisses hinter ihr geschlossen hatte, wandte Sascha sich an Katja: „Sie weiß immer noch nicht, was sie erzählen soll, oder? Wenn die Leute fragen, warum ich nicht mehr auf der Schule bin, meine ich.“
„Frag mich nicht“, stöhnte seine kleine Schwester und hakte sich bei ihm ein. „Ich weiß auch nicht, wie sie es schafft, aber sie rennt vor den Leuten praktisch davon.“
„Und die reden deswegen natürlich erst recht. Ich kann mir gut vorstellen, was mir die Gerüchteküche in diesem Kaff alles anhängt“, grummelte Sascha und überspielte damit, wie tief ihn das Verhalten seiner Mutter traf.
„Lass sie reden. Außerdem bemühe ich mich, ihr dummes Gelaber auf mich zu ziehen“, grinste Katja zu ihm hoch. „Wusstest du schon, dass ich drogenabhängig bin?“
„Bist du?“, gab Sascha halb amüsiert zurück, aber mit den Gedanken weit fort.
„Ja. Alle Mädchen mit Netzstrumpfhosen werden früher oder später drogenabhängig. Das weiß schließlich jeder“, schmollte sie ihn kindlich an und ließ die schwarz getuschten Wimpern fliegen. „Das hat neulich eine Freundin von mir über mich aufgeschnappt.“
„Das macht mich vermutlich zum Jung-Dealer.“
„Genau, aber weißt du was? Das kann uns egal sein. Und übel nehmen darf man es ihnen wohl auch nicht. Wenn sonst nichts los ist, muss man halt über andere Leute reden.“
„Dann sollte ich wohl darüber nachdenken, meinen Freund herzulocken, damit er mir mitten auf dem Marktplatz einen blasen kann oder so“, entgegnete Sascha trocken. „Das wäre mal richtiger Gesprächsstoff.“
„Prima Idee“, pflichtete Katja ihm lachend bei, wollte etwas hinzufügen, aber stutzte plötzlich. Prüfend sah sie ihn von der Seite an: „Haaaaaaaalt. Noch mal zurück. Dein Freund?“
Sascha grinste sie an, zuckte die Achseln und pfiff betont lässig vor sich hin. Auf Details würde Katja warten müssen, bis sie wieder allein waren, denn in diesem Augenblick kam ihre Mutter aus dem Imbiss. Ihr verlegen-düsteres Gesicht vertrieb die leichte Stimmung zwischen den Geschwistern und erinnerte Sascha daran, dass ihm ein langes, schwieriges Wochenende bevorstand.
* * *
„Katja, gehst du schon mal in den Keller und fängst mit der Dekoration an? Wir möchten mit deinem Bruder reden.“
Sascha hatte Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen. Auf diese Unterredung wartete er, seit er am Vortag in der Heimat angekommen war. Die angespannte Stimmung im Haus war unerträglich. Es war, als wäre er nie fort gewesen, nie nach Hamburg gegangen. Alle bewegten sich so vorsichtig durch die Zimmer, dass es ihn den letzten Nerv kostete. Man konnte das Dynamit fast riechen.
Angriffslustig funkelte Katja ihre Mutter an: „Und das könnt ihr nicht, wenn ich dabei bin? Zwei gegen einen ist unfair.“
Ihr Bruder schüttelte leicht den Kopf und warf ihr einen beschwörenden Blick zu. Es hatte keinen
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