Leben im Käfig (German Edition)
während ihr noch dachtet, ich wäre ein Kind. Und wisst ihr was? Ich habe in Hamburg einen Freund. Meinen ersten, festen Freund. Und ja, er ist ein Typ und er ist genau das, was ich haben will. Schminkt euch ab, dass ich je normal sein werde.“
Länger hielt Sascha es nicht aus. Sein Stuhl kippte um, als er aufsprang und blind floh. Seine Lippen waren weiß und er hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen.
Sein Weg führte ihn durch den Flur in den Garten, in dem er als Kind gespielt hatte. Sein alter Sandkasten war immer noch da.
Schwer atmend blieb er mitten auf der weiten Rasenfläche stehen und fixierte die knorrigen Apfelbäume, die ihr Laub verloren. Seine Augen brannten. Hatte er gehofft, dass sie ihn annehmen würden? So wie er war? Ja, vermutlich. Aber das taten sie nicht. Kein Wunder, dass seine Mutter gegenüber Bekannten nicht mit der Wahrheit herausrückte. Sie hoffte auf Heilung. Darauf, dass sie eines Tages sagen konnte: „Ja, mit Sascha war es eine Weile nicht so einfach. Aber wir haben das durchgestanden. Möchtet ihr Fotos von unseren Enkelkindern sehen?“
Er hörte die Schritte nicht und erschrak sich entsprechend, als er die Stimme seines Vaters hinter sich hörte: „Möchtest du?“
Überrascht drehte Sascha sich um. Eine offene Zigarettenschachtel wurde zu ihm hochgereckt. Er schaute die einzelnen Zigaretten an, als hätte er noch nie welche gesehen.
Verwirrt schüttelte er den Kopf: „Ich rauche nicht. Habe ich doch noch nie getan.“
„Das habe ich meinen Eltern früher auch gesagt“, entgegnete Dieter Suhrkamp mit einem traurigen Lächeln. „Und es stimmte trotzdem nicht. Bist alt genug, um so etwas selbst zu entscheiden.“
„Aber ich rauche wirklich nicht“, zuckte Sascha die Achseln und sah dabei zu, wie sein Vater sich eine Zigarette anzündete und genüsslich den Rauch inhalierte.
Was wollte er hier? Warum konnte er ihn nach diesem Zusammenstoß nicht allein lassen? Legte er es darauf an, dass der Krach weiter ging? Bis er ihm wieder an den Kopf werfen konnte, dass sein Herr Sohn hoffentlich nicht pädophil war?
„Konnte den Pfarrer nie leiden“, sagte der Hausherr auf einmal unvermittelt. „Ist ein Schwätzer, keine Ahnung von harter Arbeit. Weiß nicht, warum ein Mann, der keine Kinder hat, anderen Leuten Ratschläge gibt.“
Saschas Augen wurden rund, während er seinen Vater betrachtete wie das achte Weltwunder.
Dieter Suhrkamp war kein schlechter Mensch. Er arbeitete hart, verdiente deswegen auch recht gut, hatte seine Prinzipien und sicher auch seine Stärken. Intelligenz gehörte nicht dazu. Das war der Grund, warum er seine Frau die meisten Angelegenheiten bezogen auf die Kinder ausfechten ließ. Dass er sich darüber Gedanken machte, dass ein kinderloser Mann vielleicht keine Ahnung von Erziehung haben konnte, war für Sascha ein Blick in einen Abgrund, von dem er nicht gewusst hatte, dass er überhaupt existierte.
Nicht sicher, worauf dieses Gespräch hinauslief, hielt er den Mund und wartete.
„Na, wie dem auch sei. Karen wollte darüber reden. War ihre Idee.“
Sascha schwieg weiter beharrlich und sein Vater wechselte die Spur: „Schule läuft gut, ja? Hab mit nichts anderem gerechnet. Warst immer mehr der Kopfmensch.“ Eine Pause folgte. „Bist nicht wie ich. Ich bin jemand, der mit seinen Händen arbeiten muss. Richtig schaffen, weißt' Bescheid? Du bist anders. Solltest Arzt werden oder so. Hauptsache, kein Rechtsverdreher. Die kann ich nicht leiden.“
„Papa ...“, meldete Sascha sich nun doch zu Wort. Er wollte fragen, was genau sein Vater ihm eigentlich sagen wollte.
„Lass mal, Junge“, wurde er wieder unterbrochen. „Du machst dein Abitur und dann ... du musst dir keine Sorgen machen, ja? Zum Bund wirst du wohl nicht mehr müssen. Die schaffen das ab. Aber du suchst dir die beste Uni aus. Und studierst. Musst dir keine Gedanken über Geld machen oder so. Bist einer von den Guten. Bist ja auch mein Sohn.“
Der Vater wand sich ein wenig, scharrte mit den Füßen und warf seine halb aufgerauchte Zigarette ins Gras. Er ließ Sascha keine Möglichkeit, etwas zu sagen, klopfte ihm auf die Schulter und ging.
Zurück blieb ein junger Mann, der sich vorkam wie ein zu voller Koffer, der sich nicht mehr schließen ließ. Das deftige Mittagessen lag ihm schwer im Magen und er fürchtete, dass er die Dampfnudeln, die es zum Nachtisch gegeben hatte, in naher Zukunft wiedersehen würde.
Verkehrte Welt. Wieder daheim.
Seine Mutter
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