Leben im Käfig (German Edition)
Dezember.
Sein Vater machte ein unbehagliches Gesicht: „Wir kommen am dritten Januar wieder.“ Als sein Sohn kein Wort sagte, senkte Richard die Stimme: „Du weißt, dass du gerne mitkommen kannst. Wir hätten dich gerne dabei.“
Andreas wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
Jedes Jahr flogen seine Eltern zwischen den Jahren nach St. Moritz. Ein oder zwei Mal waren sie über Silvester dort geblieben, wenn das Wetter verrückt spielte.
Aber dass sie über Weihnachten und Neujahr fort waren, hatte es noch nie gegeben. Auch, wenn die Feiertage stets unterkühlt waren und mehr Schein als Sein in sich bargen, hatte Andreas sie noch nie allein verbringen müssen. Begleiten konnte er seine Eltern nicht, wie sie sehr genau wussten. In seinem Inneren gab es einen schmerzhaften Widerhall, als wäre eine zum Bersten gespannte Gitarrensaite geplatzt.
„Was ist mit Großvater?“, fragte er automatisch, wenn auch ohne viel Hoffnung. Gustav von Winterfeld war kein Familienmensch und floh gerne vor Festivitäten.
Verlegen rieb Richard sich am Kinn: „Er ist in Thailand, glaube ich.“
„Okay“, nickte Andreas und fragte sich, warum er sich so taub fühlte.
Wie sein Vater schon sagte, war er alt genug. Weihnachten bedeutete ihm nichts, hatte es nie. Er konnte nicht einmal sagen, dass er die steifen Feierlichkeiten mochte. Trotzdem.
Querstellen konnte er sich nicht. Ihm war klar, dass er nicht nach seiner Meinung gefragt wurde. Ihm wurde nur die Entscheidung mitgeteilt. Es war eigenartig, aber die zwei Wochen sturmfreie Bude erschienen ihm nicht verlockend. Eher dunkel und bitter.
In dem Bestreben sich nichts anmerken zu lassen, zog er seine inneren Vorhänge vor seinen Geist, und setzte sich auf: „Mama wird sich freuen. Sie wollte schon lange mal wieder richtig Urlaub machen. Ihr werdet bestimmt viel Spaß haben.“
„Du bist wirklich erwachsen geworden“, antwortete sein Vater eine Spur zu erleichtert für Andreas' Geschmack. Das Thema schien für ihn erledigt zu sein: „Ich sehe mal nach deiner Mutter. Sie hat sich hingelegt.“
Er machte sich daran, seinen Worten Taten folgen zu lassen, als er an der Tür noch einmal innehielt: „Ach so, möchtest du, dass Ivana einen Baum für dich kommen lässt und schmückt?“
An diesem Punkt hätte Andreas am liebsten nach seinen Kissen gegriffen und damit geworfen. Was sollte er mit einem Weihnachtsbaum? Sich alleine davor setzen? Nein danke.
„Nope“, sagte er knapp und hoffte, dass sein Vater endlich ging. Er musste alleine sein.
Kaum, dass sich die Tür geschlossen hatte, sprang Andreas auf und ging zum Fenster. Übelkeit fraß sich durch seine Eingeweide und schuf Überdruck in seiner Brust. Es fühlte sich an, als würde sein Magen von einer steinernen Faust umschlossen und nach oben gepresst.
Dabei wusste er nicht einmal genau, was ihn so quälte. Dafür gab es gar keinen Grund. Er war wirklich alt genug. Er brauchte kein Weihnachtsfest und keine Eltern, die es mit ihm verbrachten.
Er verstand die Nöte seiner Mutter, begriff, warum dieser Urlaub zwingend notwendig war. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er sie in letzter Zeit gesehen hatte, hatte sie zerbrechlicher denn je gewirkt; fast wie ein Geist. Aber er hatte sich nicht darum geschert, hatte es vor lauter Glückseligkeit nicht sehen wollen. Ja, sie brauchte Urlaub. Nur wie konnte sich etwas, von dem er überzeugt war, dass es richtig war, falsch anfühlen?
Weil er ein Egoist war. Deswegen. Weil er es ungerecht fand, dass sich um seine Mutter gekümmert wurde, während er zusehen musste, dass er allein zurechtkam. Dabei hatte seine Mama jedes Recht auf Erholung. Sie arbeitete hart und ja, Andreas erhöhte die Last auf ihren Schultern. Er setzte ihr schwer zu.
Wenn er weniger Versager wäre, mehr der Sohn, den sie sich wünschte, würde er in ein paar Jahren in die Firma einsteigen und sie entlasten. Aber diese Hoffnung hatte sie nicht mehr. Dazu musste sie auch noch mit seinem unfreundlichen Wesen leben. Mit seinen Bösartigkeiten, mit seinen Launen. Damit, dass er gut gemeinte Nachfragen gnadenlos abschmetterte und ihr allein durch seine Existenz unter die Nase rieb, wie sehr sie als Mutter versagt hatte.
Gott, wie konnte er da auch nur eine Sekunde lang an sich selbst denken?
Wie schon hundert Mal zuvor erklomm Andreas die Fensterbank und faltete sich zwischen den Ausbuchtungen der Mauern zusammen. Er empfand es als Segen, dass Sascha nicht mehr da war, denn er schämte
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