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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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sich für seine Gefühle und musste sich sammeln, bevor er sich wieder mit anderen Menschen umgab.
    Das Schneetreiben hatte zugenommen. Andreas erwischte sich dabei, dass er sich wünschte, dass das Wetter seinen Eltern einen Strich durch die Rechnung machte. Dass das Flugzeug in zwei Tagen nicht starten konnte. Angeekelt verzog er das Gesicht. Er war widerlich. Sein Neid war kindisch. Diese Art von Empfindungen stand ihm nicht zu; gerade ihm nicht. Er wollte und musste seinen Eltern den Urlaub gönnen, aber es tat weh, ausgerechnet zu Weihnachten vorgeführt zu bekommen, dass sie frei waren und er nicht.
    Die folgenden Stunden verbrachte Andreas damit, heftig schluckend aus dem Fenster zu sehen und sich selbst einzuflüstern, dass er alt genug war, um über Weihnachten allein zurückzubleiben. Er war stolz auf sich, als er endlich daran glauben konnte.
     
    * * *
     
    „Sascha, warte auf mich!“
    Frierend stopfte er seine Fäuste in die viel zu dünne Cordjacke und drehte sich um. In dem Durcheinander aus Schülern, die fluchtartig das Gymnasium verließen und ihren Weihnachtsferien entgegen strebten, war Isabell schwer auszumachen.
    Sascha trat von einem Fuß auf den anderen. Nicht, weil der stetig fallende Schnee ihm in den Nacken rieselte und sich kalt auf seine Stirn legte, sondern in erster Linie, weil er schnell nach Hause wollte. Sich verkriechen. Schlafen. Lebkuchen essen. Glühwein trinken. Das Haus nicht mehr verlassen, bis der Frühling kam.
    Das Schulgebäude, der Parkplatz und der Rest von Hamburg stöhnten seit zwei Tagen unter einer dichten Schneedecke. Schon vor Wochen hatten die Meteorologen einen schweren Wintereinbruch vorausgesagt. Die gängigen Klatschblätter hatten gar einen erneuten Jahrhundertwinter prophezeit, aber wer nahm diese Aussagen schon ernst?
    In diesem Fall erwiesen sich die Vorhersagen als richtig.
    Unermüdlich fielen Flocken bis zur Größe von Münzen vom Himmel und mehrten die weiße Pracht. Was auf freien Flächen, im Geäst kahler Bäume und auf den Dächern verspielt und einladend aussah, wurde auf den Straßen zu einem hässlichen Gemisch aus bräunlich-schwarzem Matsch, Streusalz und Splitt. Autos und Fußgänger gleichermaßen bewegten sich im Schneckentempo vorwärts.
    Die Hamburger erlebten selten so heftige Schneefälle und kamen damit weniger gut zurecht als die abgehärteten Süddeutschen oder Sascha selbst, der in seinem nordhessischen Dorf schlechte Streudienste gewohnt war. Die Stadtverwaltung war überfordert und es ging das Gerücht, dass man darüber nachdachte, die öffentlichen Verkehrslinien lahmzulegen, falls weiterhin so viel Neuschnee fiel.
    Na, hoffentlich erst dann, wenn er daheim war. Sascha unterdrückte ein Stöhnen. Dumm nur, dass er wie jedes Jahr zu spät an die Weihnachtsgeschenke gedacht hatte und vor Heiligabend noch dringend einkaufen musste.
    „Du hast es aber auch immer eilig“, schimpfte Isabell lauthals, als sie ihn erreichte. Sie trat gegen einen Fahrradständer, um das Profil ihrer Schuhe zu säubern. „Irgendwann breche ich mir wegen dir noch einmal das Handgelenk und dann musst du meine Hausaufgaben machen.“
    „Sollte das wirklich passieren, kannst du dich auf mich verlassen“, grinste Sascha zitternd.
    Er schielte sehnsüchtig zur nahen Bushaltestelle.
    Seine Klassenkameradin fing seinen Blick auf und schüttelte vehement den Kopf: „Vergiss es. Du läufst mir nicht schon wieder davon.“
    „Dann beeil dich“, bat Sascha. „Der Bus kommt gleich und ich will ...“
    „... zu deinem Freund. Schon klar. Zu deinem mysteriösen Freund, den wir nie zu Gesicht bekommen. Ihr habt euch ja auch schon bestimmt zwölf Stunden nicht gesehen. Muss Liebe schön sein.“
    Es waren mehr als zwölf Stunden. Eher eineinhalb Tage.
    Es mochte für Außenstehende der Eindruck entstehen, dass sie sich täglich sahen, aber das stimmte nicht. Sie trafen sich sehr oft, aber klebten nicht dauernd zusammen.
    Sascha brauchte ab und an Raum für sich allein oder seine anderen Kontakte und Andreas ging es nicht anders.
    An diesem Tag lag Isabell allerdings richtig: Er wollte nach Hause, schnell essen und hinterher sofort zu Andreas. Den Beginn der Weihnachtsferien gebührend feiern und seine kalten Füße unter seiner Bettdecke wärmen. Etwas Schöneres konnte Sascha sich gerade nicht vorstellen.
    „Was gibt es denn nun?“, fragte er ungeduldig.
    Isabell feixte: „Dräng mich nicht so. Ich könnte das Gefühl bekommen, dass du mich möglichst

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