Leben im Käfig (German Edition)
wünschte, er könnte seinen Freund an der Hand nehmen und mit ihm zusammen rennen. Egal, wohin. An einen Ort ohne Telefone, ohne Internetzugang, ohne Familien, ohne Schule, ohne Sorgen. Wenigstens für ein paar Stunden. Er wollte Andreas und sich selbst aus der Achterbahn der Einflüsse von außen befreien und schlicht sein. Luft holen. Küssen. Schmusen. Nicht reden. Nicht fragen. Zusammen sein. Auf jede vorstellbare Weise.
Stattdessen saßen sie hier gemeinsam fest, wussten, dass unten im Haus gebrüllt wurde, mit schulischem Druck im Nacken, in dem Wissen, dass es nebenan ebenfalls chaotisch zuging und überhaupt.
Sascha wollte gehen. Ganz plötzlich. Alles hinter sich lassen. Irgendwohin verschwinden, wo es ruhig war. Aber er konnte Andreas nicht allein lassen. Traurig fiel ihm auf, dass sie sich nicht einmal richtig begrüßt hatten; von der leidenschaftlichen Nähe, nach der er sich sehnte, ganz zu schweigen.
Deprimiert setzte er sich aufs Bett und beobachtete Andreas, der angespannt nach unten lauschte. So weit weg. So viele Sorgen.
„Komm“, bat Sascha und streckte die Hand aus. Als Andreas zögerte, fügte er hinzu: „Du kannst eh nichts tun. Willst du dich dazwischen werfen? Wenn sie sich streiten wollen, wollen sie sich eben streiten. Das ist kein Weltuntergang.“
Nur langsam folgte Andreas seiner Aufforderung und setzte sich steif neben ihn.
„Komm her“, wiederholte Sascha leise und fasste zu, strich über einen verkrampften Nacken, streichelte Schulterblätter und zog Andreas langsam mit sich nach hinten.
Sanft küsste er seinen Freund auf die Nase, auf die Wange und schließlich auf den Mund. In dem Versuch, sie beide von dem Chaos um sie herum abzulenken, schickte Sascha seine Hände auf Wanderschaft. Streichelte, schob Stoff beiseite, berührte und verwöhnte. Das hier war gut. Richtig. Besser als die Schwierigkeiten, die sie belasteten.
Halb schob er sich über Andreas und vertiefte ihren Kuss. Biss sacht in die weiche Unterlippe, saugte an seiner Zunge und ließ die Hand tiefer gleiten. Das Bedürfnis, genau jetzt mit seinem Freund zusammen zu sein, wurde übermächtig. Vergessen. Sich genießen. Entspannen.
Plötzlich löste Andreas sich von ihm und schob seine Hand beiseite: „Sag mal, spinnst du? Wir können hier oben doch nicht ficken, während meine Eltern sich im Wohnzimmer an die Kehle gehen.“
„He ... schon gut“, zog Sascha sich abwehrend zurück. Diese heftige Reaktion hatte er nicht erwartet. „Kein Grund, sauer zu werden. Ich dachte, es würde dich ablenken.“
Ein zerknirschter Ausdruck schob die Dunkelheit aus Andreas' Zügen und machte etwas anderem Platz. Halb Angst, halb schlechtes Gewissen.
„Tut mir leid“, murmelte er verlegen. „Ich wollte dich nicht anmachen. Ich… Kann nur nicht, wenn sie da unten ...“
Er fiel lang auf die Matratze und bedeckte seine Augen mit seinem Unterarm. „Ich weiß nur nicht, was da los ist. Wie schwer meine Mutter krank ist. Ob sie sich scheiden lassen. Ich meine, wer bleibt denn dann hier? Und wer geht? Kommt der, der geht, dann ab und zu vorbei? Oder ...“
Oder sehe ich denjenigen nie wieder.
Andreas beendete den Satz nicht, aber Sascha konnte sich denken, was er meinte.
Die Sorgen um das eigenartige Gebaren der Mutter konnte er augenblicklich nachvollziehen. Doch das Dilemma in Sachen Scheidung dämmerte ihm erst langsam. Klar, viele Eltern ließen sich scheiden. Wenn sie es richtig anfassten, blieben sie ihren Kindern jedoch beide erhalten. Wie das im Fall der von Winterfelds aussehen würde, stand hingegen in den Sternen.
Andreas konnte nicht sagen: „Okay, dieses Wochenende fahre ich zu meinem Vater.“ Wenn dieser dann überhaupt Interesse daran hatte, seinen Sohn zu sehen.
Fuck. Sascha hasste diese Familie. Ihren Egoismus. Ihre Gnadenlosigkeit. Ihre Unfähigkeit, mit Krankheiten egal welcher Art umzugehen.
„Schon gut“, murmelte Sascha, konnte aber seine Enttäuschung nicht verleugnen.
So viel dazu, einen schönen Tag mit seinem Freund zu verbringen. Ihm kann der hässliche Gedanke, dass er unter diesen Umständen über seinen Büchern besser aufgehoben gewesen wäre. Um zu lernen. Für ein Abitur, für das er zu wenig getan hatte.
Andreas brauchte er in dieser Situation nicht um Hilfe bitten. Genauso wenig, wie er jetzt mit ihm darüber reden mochte, was er nach dem Abitur machen sollte. Schon wieder. Mist.
„Nein, nicht gut. Ich hätte dich nicht so anfahren dürfen. Wirklich, es tut mir
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