Leben im Käfig (German Edition)
Nachmittag fast eine Dummheit begangen. Gefangen in der für ihn rationalen Vorstellung, dass sie sich bald aus den Augen verlieren würden, wollte er den Arm um Sascha schlingen und ihm das Kinn auf die Schulter legen. Nur für ein paar Sekunden, damit er eine schöne Erinnerung an ihre Ferienfreundschaft hatte. Er hatte es nicht gewagt, und das war gut.
Es konnte nicht so weitergehen. Andreas mochte sich dagegen sträuben, aber er war nicht naiv. Dort draußen wartete ein Rudel gesunder, normaler Mitschüler auf Sascha. Leute, mit denen er in seinen Kursen saß und Partys besuchte.
Leute, die nicht in einen Käfig eingepfercht lebten. Coole Leute, hübsche Mädchen, sportliche Typen. Begabte, kreative und interessante Menschen, denen die Welt offen stand.
Alle hatten eine individuelle Geschichte zu erzählen und lebten ein Leben, an dem Andreas nicht teilnehmen konnte. Es gab keinen Grund, warum Sascha sich weiterhin für ihn interessieren sollte. Er selbst würde es nicht tun.
Diese Erkenntnis war sehr unangenehm.
Ohne genau sagen zu können, warum, glaubte Andreas fest daran, dass die nächsten zwei Tage alles entscheiden würden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie langsam auseinanderdrifteten. Entweder der Bruch kam sofort oder er kam gar nicht. Eine dritte Alternative gab es nicht oder zumindest wollte er nicht daran glauben. Die Vorstellung, dass sie sich über Wochen langsam voneinander entfernten, war zu schrecklich, um sie zuzulassen.
Das war der Grund, warum er auf der Fensterbank saß und nicht schlafen konnte. Seine Finger waren zu kalt zwischen seinen zusammengepressten Beinen und der Rücken tat ihm weh. Bewegen wollte er sich nicht. Sein Blick folgte dem langsamen Zug einiger weniger Wolken vor dem Mond. Sie sahen aus wie Nebelschwaden, die eine leuchtende Laterne umkreisten.
Er hatte sich fest vorgenommen, genügsam zu sein. Dankbar wollte er annehmen, was er bekommen konnte, und es anschließend gut sein lassen. Jetzt machte der Gedanke daran, was ein Verschwinden von Sascha nach sich ziehen würde, seine Handflächen klamm und seine Kehle eng.
Auf unangenehme Weise fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Vor seinem inneren Auge sah er sich im Kreis seiner Klassenkameraden stehen, während sie mit glühenden Gesichtern ein Spielzeug bewunderten, das er im Ranzen in die Schule geschmuggelt hatte.
Einige waren neidisch gewesen, andere hatten seine Freundschaft gesucht, um einmal mit dem neuesten Game Boy oder singenden Skateboard spielen zu dürfen. In einem Aspekt waren sie alle gleich: Sie rannten nach Schulschluss zu ihren Eltern und lagen ihnen in den Ohren, dass sie auch so ein tolles Geschenk haben wollten.
Andreas dagegen musste nie um die neuesten Produkte der Spielzeughersteller betteln, aber dafür wurde er von einem Chauffeur eingesammelt, der sich nicht für seine Erlebnisse in der Schule interessierte. Wie eifersüchtig war er gewesen, wenn die anderen Kinder von einer gut gelaunten Mutter begrüßt oder von einem lächelnden Vater abgeholt wurden? Was hätte er darum gegeben, wenn seine Eltern auch einmal aufgetaucht wären, um zu fragen: „Wie war die Klassenarbeit? Hast du ein gutes Zeugnis? Komm, wir gehen ein Eis essen.“
Fast alle seine Mitschüler waren in den ersten Klassen nach der Zeugnisvergabe von ihren Eltern zum Eisessen abgeholt worden. Es war eine Art stumme Tradition in seinem Jahrgang gewesen. Nur er war nie dabei gewesen. Er hätte mitgehen können – Taschengeld hatte er genug -, aber das war ihm zu peinlich.
Seitdem hatte sich nicht viel verändert, wenn er ehrlich war. Er bekam sein Spielzeug, aber musste allein damit spielen. Nichts anderes war er gewohnt. Und dann kam Sascha, sprengte den Panzer seiner Lethargie auf und erinnerte ihn daran, was normal war.
Andreas krümmte sich zusammen und legte die Stirn auf die Knie. Er war irrational und er wusste es. Weder vertraute er Saschas Loyalität, noch kannte er ein vernünftiges Maß für seine Wünsche. Er hatte sich nicht unter Kontrolle, benahm sich saudämlich. Er führte sich auf, als hinge sein Leben davon ab, ob Sascha wieder auftauchte oder nicht.
Wege kreuzten sich, Wege trennten sich. Das war der Lauf der Dinge. Er musste sich verdammt noch mal zusammenreißen.
Entschlossen warf er den Kopf in den Nacken und hörte die Engel singen, als er mit dem Hinterkopf gegen ein Brett knallte. Andreas zischte und fasste in seine Haare, suchte nach klebriger Flüssigkeit und zuckte
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