Leben im Käfig (German Edition)
Was tut er da? Sind wir im falschen Gebäude? Himmel, seine Schultern und schmalen Hüften in der engen Jeansjacke sind zum Niederknien. Was geht hier vor sich?
Mit einigen Sekunden Verspätung begriff Sascha den Ernst der Lage und nahm die Verfolgung auf. Er sah, wie Andreas in seiner kopflosen Flucht einen Senioren anrempelte und über die Zufahrt zur Notaufnahme rannte.
Sascha spurtete los, rief dem fluchenden Mann eine wirre Entschuldigung zu und betete, dass Andreas kein Zickzack lief, sondern in Sicht blieb.
„Das hier ist ein Parkplatz, keine Rennbahn, du Flegel“, rief ihm jemand hinterher, als er zwischen zwei Autos hindurchfegte. Wohl wahr. Das war es ja, was Sascha solche Sorgen machte. Andreas verhielt sich wie ein Tier auf der Flucht, blind für alles und jeden; auch für herannahende Wagen.
Bitte bitte, bleib stehen, flehte Sascha stumm.
In seiner linken Seite begann es zu stechen. Für einen Marathon quer über das Klinikgelände war er nicht richtig angezogen. Und auch, wenn er schlank war, konnte er es mit Andreas' Laufband-Kondition nicht aufnehmen.
Sie erreichten eine Grünanlage mit weißen Pavillons und dichtem Buschwerk, Sascha gut einhundert Meter hinter seinem Freund. Der Kies knirschte unter seinen schweren Boots. Er wich einer Frau im geblümten Bademantel aus, die an Krücken spazieren ging. Ein Fahrradfahrer kam ihm entgegen und ließ ihn auf den Rasen springen. Auf einer grün gestrichenen Holzbank saß eine Jugendliche mit Gipsfuß, die von einer ganzen Heerschar Freundinnen umrahmt war und ein Geschenk öffnete. An der Lehne der Bank wippte ein Strauß bunter Luftballons.
Gerade diese Ballons waren es, die Sascha Andreas aus den Augen verlieren ließen. Nur ganz kurz behinderten sie seine Sicht. Als er sie passiert hatte, war Andreas verschwunden. Verdammt.
Mit einem klammen Gefühl in der Brust blieb Sascha stehen. Sollte er rufen? Vielleicht. Er zweifelte daran, dass er eine Antwort bekommen würde.
„Okay“, murmelte er kaum hörbar. „Denk nach. Denk nach, Mann.“
Andreas war nicht mehr auf dem Parkplatz und nicht mehr auf der Straße. Das war sehr gut. Es war anzunehmen, dass er nach einem Ort suchte, an dem er sich sicher fühlte. Warum verflucht noch mal war er nicht zum Auto zurückgelaufen?
Was war jetzt wichtiger? Andreas suchen oder in der Klinik Bescheid geben? Andreas natürlich, aber Sascha gefiel der Gedanke nicht, dass all ihre Anstrengungen umsonst gewesen sein könnten.
Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so hilflos gewesen zu sein. Die Situation machte ihm Angst. Wären sie doch im Bett geblieben. Warum hatte er Andreas überredet? Jetzt war er fortgelaufen. Aber nein, das war Unsinn. Der Termin musste sein. Was sollte er anderes tun? Das Problem ignorieren und auf besser Wetter warten? Kaum.
Erneut setzte Sascha sich in Bewegung. Er entschied, eine Weile nach Andreas zu suchen. Wenn er ihn nicht fand, würde er in der Klinik Bescheid geben und darauf hoffen, dass man ihm helfen konnte. Immerhin hatte er es mit einem Krankenhaus zu tun. Irgendjemand würde schon wissen, was man in so einem Fall unternahm. Hoffentlich.
Die Mädchen kicherten, als er an ihnen vorbei stapfte. Er hörte ihr Flüstern in seinem Rücken, konnte sich denken, dass er einen merkwürdigen Eindruck hinterließ. Nichts hätte ihn weniger kümmern können.
Sascha folgte dem gewundenen Verlauf des Parks. Kein Zeichen von Andreas. Nach gut fünf Minuten näherte er sich einer Gruppe Bäume, deren Laub goldbraun im Gras lag. Ein verwitterter Pavillon duckte sich unter den gedrungenen Buchen. Einem Instinkt folgend – oder vielleicht, weil er sich an die Berichte über Phobien aus dem Internet erinnerte – umrundete er das einst weiße Gebilde und hatte Glück.
Andreas kauerte im Schutz der Rückwand, die Arme um die Beine geschlungen und das Gesicht zwischen den Knien vergraben. Er zitterte ebenso schrecklich wie in der vergangenen Woche, als Sascha ihn nach dem Zahnarztbesuch besuchen kam.
Es tat ihm weh, ihn schon wieder so zu sehen.
Ein Kloß bildete sich in Saschas Hals. Er drückte auf seinen Kehlkopf und machte das Sprechen schwierig. Das kam ihm entgegen, denn er wusste eh nicht, was er sagen sollte. Nervös kauerte er sich neben Andreas ins Gras. Die Situation erschien ihm surreal. Es ging nur um einen Zahnarztbesuch. Unangenehm, aber kein Weltuntergang. Und doch bebte Andreas an seiner Seite, als wäre die Apokalypse über ihn hereingebrochen.
„Bist du
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