Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Foto (Sonnenuntergang an einem Strand) und eine
Schüssel mit einer Frucht darin (einem Apfel). Der Duft von Blumen hängt in der Luft, aber es sind keine zu sehen.
Während wir das Ganze in seiner Seltsamkeit auf uns wirken lassen, kommt ein drahtiger Mann mit flinken Schritten durch einen Türbogen am Ende des Zimmers herein. Er ist stark gebräunt, trägt Sandalen, braune Shorts und ein weißes T-Shirt mit der rätselhaften Aufschrift: SIEGER IST, WER DAS MEISTE SPIELZEUG HAT, WENN ER STIRBT. Dem Brief von Mr Oswald nach zu schließen, muss er über sechzig sein, aber er sieht mindestens zehn Jahre jünger aus.
»Hallo, sind Sie Simon Rudolph?«, frage ich und durchforsche sein Gesicht vergeblich nach einer Ähnlichkeit mit dem angestrengt blickenden Jungen auf dem verblassten Foto.
»Zu Diensten«, antwortet er mit einer kleinen Verbeugung. »Und ihr beiden seid …?«
»Ich heiße Jeremy Fink und das ist Lizzy Muldoun.« Lizzy nickt dem Mann kurz zu. Ihre roten Haare und die roten Sommersprossen sind die kräftigste Farbe im Raum, abgesehen von der Lampe in meinen Händen und dem Bild mit dem Sonnenuntergang.
»Ich habe schon mal gehört, dass man mit einer Taschenlampe unterwegs sein kann«, sagt Mr Rudolph grinsend. »Aber gleich mit einer ganzen Tischlampe? Und noch dazu einem so kunstvollen Stück.«
Schnell strecke ich ihm die Lampe entgegen. »Die gehört Ihnen. Sie haben sie 1958 an Ozzy Oswald verpfändet.«
Mr Rudolphs Augen werden immer größer, bis ich fürchte, sie könnten ihm aus dem Kopf fallen. Er tritt einen Schritt vor und nimmt die Lampe von mir entgegen. Indem er mit der Hand über das Glas fährt, wiederholt er immer wieder: »Mutters
alte Lampe! Ich kann es nicht glauben, ich kann es einfach nicht glauben.« Zuletzt fragt er: »Woher habt ihr sie?«
»Wir, äh, arbeiten sozusagen für Ozzys Enkel«, erkläre ich. »Er wollte, dass Sie sie zurückbekommen.« Im Grunde denke ich mir das aus, denn ich weiß wirklich nicht, weshalb Mr Oswald diese Dinge zurückgibt, aber zumindest hat es gut geklungen.
Er stellt die Lampe auf den Tisch und wendet sich uns zu. »Sie ist eine Schönheit, nicht wahr?«
»Ja«, sage ich beflissen. Ich schaue Lizzy an und rechne damit, dass auch sie zustimmt. Stattdessen wandern ihre Augen hin und her und sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. Mir wird bewusst, dass sie kein Wort geredet hat, seit wir unseren Fuß in die Wohnung gesetzt haben. Übrigens ist sie auch ein bisschen blass. »Alles in Ordnung?«, flüstere ich, während Mr Rudolph ein paarmal um die Lampe herum wandert und sie von allen Seiten bewundert.
Lizzy flüstert zurück: »Hier ist nichts. Es ist so leer. Es ist nichts zum Mitnehmen da.«
»Was meinst du mit ›Es ist nichts zum Mitnehmen da‹?«
»Meine Hände jucken. Das bedeutet, dass ich irgendwas mitnehmen soll, aber es ist nichts da!«
Ich werfe einen raschen Blick zu Mr Rudolph hinüber, um sicherzugehen, dass er das nicht gehört hat, aber er ist immer noch ganz verzückt von der Lampe. »Darüber reden wir später«, zische ich und reiße Lizzy den Umschlag aus der Hand. Dann gehe ich zu Mr Rudolph und halte ihn ihm hin. »Der gehört Ihnen auch. Er ist … irgendwie ein bisschen geöffnet worden.«
Er nimmt den Umschlag an und schüttelt verblüfft den Kopf.
»Warum hat Ozzy sie nicht verkauft? Ich habe ihm gesagt, dass es eine echte Tiffany-Lampe ist. Er hätte eine schöne Stange Geld damit machen können.«
»Ich weiß es nicht«, antworte ich ehrlich. »Er hat keines der Dinge, die Kinder in sein Geschäft gebracht haben, verkauft.«
»Ist das wahr?«, fragt er und schüttelt erneut den Kopf. »Der gute, alte Ozzy.«
Plötzlich erwacht Lizzy zum Leben und platzt heraus: »Wo ist die Uhr?«
Einen Augenblick lang erscheint Mr Rudolph verwirrt, dann lächelt er. »Ah, die silberne Uhr. Ich habe schon seit Jahrzehnten nicht mehr an diese Uhr gedacht. Ich habe sie jeden Tag meines Arbeitslebens getragen. All die langen Jahre an der Börse. Jedes Ticken der Uhr markierte einen weiteren Tropfen Lebenskraft, den ich nie zurückbekommen würde. Ich habe sie einem Obdachlosen auf der Straße geschenkt an dem Tag, als ich mit meiner ersten Million herauskam.«
Stille senkt sich über den Raum. Dann schreit Lizzy: »Sie haben eine MILLION DOLLAR? Und es gibt jedes Ding in diesem Raum nur EINMAL?«
Mr Rudolph lacht und sagt: »Ich habe keine Million mehr. Das meiste davon habe ich verschenkt. Versteht ihr, ich bin mit Geld
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