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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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zur noch immer halb geöffneten Wohnungstür und hoffe, dass es James nichts ausmacht, etwas länger zu warten. Das Zimmer, in das uns Mr Rudolph führt, ähnelt dem, das wir gerade verlassen haben, nur ist es viel kleiner und in der Mitte liegen große, bunte Kissen im Kreis. Eine Vase mit der größten lila-weißen Blüte, die ich je gesehen habe, steht im Zentrum.
    »Hier meditiere ich«, erklärt er. »Und wenn ich Gäste habe, treffen wir uns hier. Sucht euch ein Kissen aus und macht es euch bequem.«
    Lizzy stellt die Lampe vorsichtig hinter sich ab und lässt sich
auf ein rotes Kissen fallen. Ich wähle ein gelbes und Mr Rudolph nimmt das weiße. »Betrachtet die Blume«, weist er uns an. »Was seht ihr?«
    »Hm, eine Blume?«, sagt Lizzy und ergänzt schnell: »Eine große lila-weiße, die gut riecht?«
    Er wendet sich an mich. »Jeremy? Was ist mit dir?«
    Ich starre auf die Blume, und unerklärlicherweise frage ich mich, ob sie sich plötzlich in etwas anderes verwandeln wird, eine Katze zum Beispiel oder ein Streichholzbriefchen. Als das nicht passiert, sage ich rasch: »Dasselbe, was Lizzy gesagt hat.«
    »Stimmt genau!«, ruft er zu meiner Überraschung. »Das ist eine große, lila-weiße, wohlriechende Blume. Eine Orchidee, genauer gesagt. So, jetzt wartet hier.« Er faltet seine Beine auseinander und verlässt mit großen Schritten das Zimmer.
    Lizzy beugt sich vor und flüstert: »Was machen wir hier eigentlich?«
    »Es ist der nächste Plan auf unserer Liste«, erkläre ich und hoffe, dass sie mich versteht. »Vielleicht können wir die Kassette von meinem Dad nie öffnen. Wenn ich den Sinn des Lebens vor meinem Geburtstag herausfinde, ist es wenigstens nicht so schlimm, falls ich sie nicht aufkriege.«
    Lizzy antwortet nicht, sondern nickt nur gedankenvoll. »Okay, das hab ich verstanden. Aber was ist, wenn dieser Typ die Antwort nicht weiß?«
    In diesem Moment kehrt Mr Rudolph zurück. Zu meiner Überraschung trägt er das Sonnenuntergangsfoto unter dem Arm. Er lehnt es an die Wand und setzt sich wieder auf sein Kissen.
    »So, was bedeutet dieses Bild für euch? Lizzy, du wieder zuerst.«

    Lizzy bläst die Wangen auf und lässt die Luft langsam heraus. »Was bedeutet es für mich?«, wiederholt sie. »Ich denke mal, es bedeutet, dass der, der das Foto gemacht hat, ein guter Fotograf ist. Es ist schön.«
    »Was ist mit dir, Jeremy?«
    »Ich kann mit Kunst einfach nichts anfangen«, gebe ich zu. »Es ist schön? Es heitert den Raum auf?«
    »Wie fühlst du dich, wenn du es anschaust?«, bohrt Mr Rudolph nach.
    »Ähm, irgendwie traurig, glaube ich … weil es etwas zeigt, das zu Ende geht, aber gleichzeitig hat es auch etwas Entspannendes …«
    »Lizzy?«
    »Hm – wenn ich es anschaue, möchte ich an den Strand gehen.«
    Mr Rudolph lächelt. »Okay, großartige Antworten. Mich erinnert dieses Foto daran, jeden Augenblick zu genießen, denn Augenblicke sind vergänglich. Eine Minute später und der Himmel auf dem Bild wäre schon dunkel. Es erinnert mich auch an den Tag, an dem ich das Foto gemacht habe und mit wem ich damals zusammen war. Ich kann die Schönheit dieses Sonnenuntergangs mit mir tragen, in mir, und so kann ich etwas von dem, was in mir bewahrt ist, nutzen, wenn ich um mich herum wenig Schönes sehe. Wir merken also schon, dass dieses eine Sonnenuntergangsfoto für uns drei jeweils unterschiedliche Bedeutungen hat. Aber jetzt kommt meine eigentliche Frage: Was, glaubt ihr, bedeutet das Foto für die Blume?«
    Lizzy und ich sagen wie aus einem Mund: »WAS?«
    »Ganz richtig!«

    »Was?«, wiederholen wir.
    Mr Rudolph streckt eine Hand aus und nimmt die Blume aus der Vase. »Einer Blume bedeutet dieses Foto nichts. Wenn du, Jeremy, also fragst, was der Sinn des Lebens ist, wird es keine allgemein gültige Antwort darauf geben. Was bedeutet ein Foto, ein Sonnenuntergang, eine Blume? Jeder von uns bringt seine eigenen Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Erfahrungen in alles ein, was er tut. Jeder von uns wird ein Ereignis oder einen Sonnenuntergang anders interpretieren.«
    Er macht eine Pause, und ich versuche, mit ihm Schritt zu halten. »Im Prinzip«, sage ich langsam und konzentriere mich auf meine Worte, »im Prinzip sagen Sie, dass alles relativ ist. Der Sonnenuntergang oder auch das ganze Leben hat für jeden einen anderen Sinn.«
    »Genau«, sagt er.
    »Nee!«, ruft Lizzy und springt auf. »Das nehme ich Ihnen nicht ab! Ich finde, es muss irgendwas geben, das für alle die gleiche

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