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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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Bedeutung hat. Sonst hat gar nichts einen Sinn.«
    Mr Rudolph steht lächelnd auf. »Zum Glück habt ihr noch viel Zeit, um das herauszufinden.«
    »Nicht so lange, wie Sie denken«, murmelt Lizzy vor sich hin.
    Als wir langsam in den großen Raum zurückgehen, richte ich eine Frage an Mr Rudolph: »Aber selbst wenn der Sonnenuntergang für jeden eine andere Bedeutung hat, hat er doch jedenfalls eine Bedeutung, oder?«
    »Diese Frage ist schwierig zu beantworten«, sagt Mr Rudolph und bleibt stehen, um den Rahmen wieder an die Wand zu hängen. »Der Sonnenuntergang leuchtet immer gleich verlässlich, gleich farbenprächtig, ob er nun eine Hochzeit oder
einen Krieg beleuchtet. Man könnte also meinen, der Sonnenuntergang hat für sich genommen keine eigene Bedeutung; er geschieht einfach. Und wenn der Sonnenuntergang keine Bedeutung hat außer der, die wir ihm geben, wie ist es mit einem Felsen? Oder einem Fisch? Oder dem Leben an sich? Aber nur weil beispielsweise eine Parkbank keine eigene Bedeutung hat, heißt das nicht, dass sie auch keinen Wert hat.«
    »Ich krieg langsam Kopfschmerzen«, murmelt Lizzy.
    Inzwischen haben wir die Wohnungstür erreicht, und ich bezweifle, dass ich der Erkenntnis, was sich in der Kassette verbirgt, auch nur einen Schritt näher gekommen bin. Meine Schultern sacken nach unten.
    »Vielleicht bringt das Folgende Licht ins Dunkel«, sagt Mr Rudolph. »Du musst dir klar darüber werden, wie deine Frage lautet. Manchmal meinen Leute, sie suchen den Sinn des Lebens, aber in Wirklichkeit wollen sie verstehen, warum sie hier sind. Worin ihr Ziel besteht, das Ziel des Lebens an sich. Und diese Frage ist viel leichter zu beantworten als die nach dem Sinn des Lebens.«
    Lizzy ist schon halb zur Tür hinaus. »Tatsächlich?«, frage ich und ziehe sie am Ärmel zurück. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich sehe die Spitze eines weißen Blütenblatts aus ihrer Tasche ragen.
    »Mit euch ist es wie mit der Lampe, dem Stuhl, der Blume«, erklärt Mr Rudolph. »Ihr müsst nur ihr selbst sein, und zwar so gut ihr irgend könnt. Findet heraus, wer ihr wirklich seid, findet heraus, warum ihr hier seid, und ihr werdet euer Ziel erkennen. Und damit letztlich den Sinn des Lebens.«
    Warum bin ich hier? Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin. Erwartet man von mir, dass ich das weiß? Weiß es jeder
außer mir? Was stimmt nicht mit mir? Ich wusste schon immer, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt.
    »Psst«, flüstert Lizzy. »Du klingst ja, als hättest du sie nicht mehr alle.«
    Hab ich das Ganze eben laut ausgesprochen?
    »Du solltest nicht mit leeren Händen weggehen, Jeremy«, sagt Mr Rudolph, der meine wirren Reden freundlich überhört. »Das wäre nicht gerecht.« Er geht zu der Schüssel, greift nach dem Apfel und wirft ihn mir zu. Ich strecke die Hände gerade rechzeitig aus, um ihn aufzufangen. Mancher, für den so etwas wichtig ist, wäre vielleicht neidisch, dass seine Freundin eine Buntglaslampe von Tiffany bekommen hat und er selbst bloß einen Apfel. Zum Glück gehöre ich nicht zu diesem Typ. Hätte Lizzy allerdings einen Schokoriegel bekommen und ich einen Apfel, dann hätten wir tatsächlich ein Problem.
    Lizzy witscht durch die Tür und macht sich im Hausflur treppabwärts davon. Ich weiß, dass ich Mr Rudolph danken muss, weil er uns zu helfen versucht hat, aber mein Verstand klebt an dem Gedanken fest, dass ich nicht weiß, warum ich hier auf diesem Planeten bin. Warum existiere ich? »Also, danke für alles, für Ihre Zeit und überhaupt. Aber ich bin wohl noch ein bisschen durcheinander.«
    Er lächelt und klopft mir auf die Schulter. Danach deutet er auf den Apfel in meiner Hand und sagt: »Ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass wir zählen können, wie viele Kerne in einem Apfel sind, nicht aber, wie viele Äpfel in einem Kern sind. Verstehst du, was er damit gemeint hat?«
    Ich schüttle den Kopf.
    »Bevor ein Apfelkern eingepflanzt ist, weiß niemand, wie viele Äpfel eines Tages daraus wachsen werden. Es geht immer
um Entwicklungsmöglichkeiten, und unsere Möglichkeiten bleiben uns grundsätzlich so lange verborgen, bis wir sie nutzen, bis wir unser Ziel erkennen und uns selbst einpflanzen, damit wir wachsen. Ich bin überzeugt, du wirst finden, wonach du suchst, Jeremy. Viel Glück und Segen für dich.«
    Damit schließt er die Tür und lässt mich mit dem Apfel stehen, den ich so fest umklammere, dass meine Fingernägel die Schale durchbohren.

Kapitel 12: Die

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