Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
aufgewachsen. Dann habe ich so viel verdient, dass ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. Und soll ich euch etwas sagen? So bin ich viel glücklicher. Alle Probleme im Leben rühren daher, dass man sich an etwas bindet. Wenn du dich nicht mehr an Dinge bindest, sie nicht mehr brauchst, überkommt dich ein unbeschreibliches Gefühl des Friedens.«
Lizzy schaut zweifelnd. »Und wie bezahlen Sie Ihre Rechnungen?«
Wieder lacht er. »Ich habe nicht gesagt, dass ich alles verschenkt habe.«
»Haben Sie es nicht irgendwann satt, immer dieselben Dinge anzuschauen?«, fragt sie. Darüber habe ich auch nachgedacht. »Zum Beispiel das Bild. Es ist ja nett und alles, aber es ist praktisch das Einzige, was man hier anschauen kann.«
Mr Rudolph schüttelt den Kopf. »Ich sehe mich nicht daran satt. Wenn die Gegenstände abgegrenzt im Raum stehen, wenn sie von großen, leeren Flächen umgeben sind, dann verändern sie sich jeden Tag, ganz allmählich. Wenn man etwas zwanzigfach besitzt, kann der einzelne Gegenstand nicht hervortreten. Und außerdem: Wenn man etwas findet, das man schätzt, etwas, das gut funktioniert, weshalb sollte man dann weitersuchen? Die Leute denken immer, um die Ecke herum wartet etwas Besseres. Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, meine Zeit nicht mehr mit der Suche nach etwas Besserem zu verschwenden, sondern das zu genießen, was ich habe.«
»Ist das der Sinn des Spruchs auf Ihrem T-Shirt?«, frage ich. »Es ist ein Scherz, stimmt’s? Oder vielleicht sarkastisch gemeint?«
Er schaut zu den Worten auf seinem T-Shirt hinunter und lächelt. »Ja. Das ist einer meiner Lieblingssprüche. Das Traurige daran ist, ich habe früher selbst daran geglaubt. Aber wenn man stirbt, kann man nichts mitnehmen. Welchen Sinn hat es also, Dinge anzuhäufen? Ich erwarte nicht, dass ihr Kinder euch diese Einstellung in eurem Alter zu eigen macht. Das ist etwas, worauf man selber kommen muss, wenn der rechte Zeitpunkt da ist.«
Ich bin froh, dass er das gesagt hat, denn ich habe keine Lust, ein schlechtes Gewissen zu bekommen wegen meinen vielen Büchern, meiner Sammlung von Süßkram, meinen Comics oder sonst etwas von meinen Sachen. Trotzdem kann ich ansatzweise verstehen, was er meint.
»Ihr habt schon mal den Ausdruck ›sich mit dem Strom treiben lassen‹ gehört, oder?«
Wir nicken.
»Also, nach diesem Motto habe ich mein Leben zu leben beschlossen. Wenn du dich mit dem Strom des Lebens treiben lässt, ohne andere ändern zu wollen oder Situationen beeinflussen zu wollen, die nicht in deiner Macht liegen, ist das Leben viel friedlicher.« Plötzlich greift er nach der Lampe und drückt sie Lizzy in die Hand. »Hier«, sagt er, »nimm du sie.«
Ihr klappt buchstäblich der Unterkiefer herunter. »Ich? Wieso denn?«
»Ich habe schon eine Lampe.«
Unser aller Blicke richten sich auf die kleine blaue Plastiklampe auf dem Tisch. Sie sieht aus wie eine von den Leuchten, die man im Drugstore für fünf Dollar kaufen kann.
»Wollen Sie nicht lieber die hier haben?«, fragt Lizzy. »Sie ist doch viel schöner.«
Mr Rudolph schüttelt den Kopf. »Meine ist völlig in Ordnung. Sie gibt Licht. Zu diesem Zweck werden Lampen hergestellt. Jedes Ding kann seine besten Eigenschaften entfalten, wenn es genau das tut, wofür es geschaffen wurde. Eine Lampe leuchtet. Ein Apfel nährt und erfrischt. Ein Stuhl ist perfekt, indem er genau das ist, was er ist – ein Stuhl.«
»Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet«, sagt Lizzy und
schaut voller Bewunderung auf die Lampe hinunter. »Aber vielen Dank für die Lampe!«
»Kann ich Sie etwas fragen?«, platze ich heraus.
Lächelnd stimmt er zu. »Für solch spezielle Gäste bin ich zu allem bereit.«
»Ist das der Sinn des Lebens? Das, wovon Sie gerade gesprochen haben?«
»Jeremy!«, ruft Lizzy aus. Ich wusste, dass meine Frage sie schockieren würde, aber ich konnte nicht anders. Falls wir die Schlüssel nicht finden, will ich trotzdem herauskriegen, was in der Kassette ist. Dieser Mann weiß eindeutig eine ganze Menge über das Leben und kein Erwachsener hat mir bisher je solche Dinge gesagt. Ich kann hier nicht weggehen, bevor ich nicht mehr erfahre von dem, was er weiß.
Mr Rudolph legt den Kopf schief und schaut mich von der Seite an. Dann lacht er und winkt uns, ihm durch den Türbogen in das angrenzende Zimmer zu folgen. »Dieser Besuch steckt wirklich voller Überraschungen! Ich denke, dafür müssen wir uns hinsetzen.«
Ich werfe einen Blick
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