Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Stückchen Plastik ruhen zu lassen. In meinem linken Bein entsteht ein Krampf. Ich strecke es ganz vorsichtig aus, damit ich ja nicht den Zeiger bewege und der Schummelei bezichtigt werde. Wenn mein Vater tatsächlich hier wäre, würde ich seine Gegenwart doch fühlen, oder?
»Fühlst du irgendwas?«, flüstert Lizzy, die offenbar meine Gedanken liest.
»Ja«, gebe ich zurück. »Ich fühle mich wie ein Trottel.«
Rick kichert. Zum ersten Mal lacht er mit mir, nicht über mich oder Lizzy.
»Pssst!«, zischt Samantha laut. »Konzentriert euch jetzt!«
»Und wenn Jeremys Vater schon eine Wiedergeburt erlebt hat?«, fragt Rick. »Er könnte jetzt auch ein fünfjähriger Junge sein. Er könnte der kleine Bobby Sanchez sein!«
»Halt die Klappe!«, sagt Samantha und wirft ihm einen wütenden Blick zu. »Jeremys Vater ist nicht Bobby Sanchez!«
»Woher willst du das wissen?«, erkundigt sich Rick.
Lizzy meldet sich wieder zu Wort: »Jedenfalls verstehen Jeremy und er sich total gut …«
»Das ist doch albern«, sage ich und ziehe meine Hand vom Zeiger zurück. »Ich hab’s gewusst. Ich hätte den Tag lieber darauf verwenden sollen, rauszukriegen, wie ich mich unsichtbar mache!« Sobald die Worte draußen sind, bereue ich sie. Was ist bloß mit mir los? Ohne jede Not liefere ich den Leuten Gründe, sich über mich lustig zu machen!
Doch anstatt mich auszulachen, sagt Rick: »Du willst lernen, dich unsichtbar zu machen? Das kann ich dir zeigen, kein Problem.«
Samantha stöhnt auf. »Nicht das schon wieder! Ich dachte, du wolltest hier neu anfangen. Du weißt schon, einfach normal sein.«
»Hör nicht auf sie«, sagt Rick und springt auf. »Sie ist bloß neidisch, dass sie es nicht kann.« Er läuft mit wehendem Umhang den Flur hinunter.
Da mir niemand sonst bleibt, schaue ich auf der Suche nach Unterstützung zu Lizzy. Sie zuckt die Achseln. »Kann ja nicht schaden.«
»Genau das Gleiche hast du auch über das da gesagt!« Ich zeige auf das Brett.
»Sie kann nichts dafür«, sagt Samantha. »Vielleicht hab ich was falsch gemacht.« Sie sieht so enttäuscht aus, dass ich mich auf der Stelle mies fühle.
»Nein, du warst super«, sage ich und versuche dabei, aufrichtig zu klingen. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich tatsächlich daran glaube, dass wir mit meinem Vater Kontakt aufnehmen können. Aber jedenfalls danke für den Versuch. Ich weiß, dass du’s echt gut gemeint hast.« Schnell laufe ich Rick hinterher, bevor sie antworten kann.
Als ich um die Ecke biege, höre ich sie noch zu Lizzy sagen: »Der ist ja so süß! Bist du sicher, dass ihr zwei nicht was miteinander habt?«
» Total!« , antwortet Lizzy ohne Zögern.
Ich würde rot werden, weil mich jemand »süß« genannt hat, hinge nicht noch meine existenzielle Krise als dunkle Wolke über mir. Ach ja, ich habe mal unter »existenziell« nachgeschlagen, wo wiederum auf »existenzialistisch« verwiesen wurde – und dazu lautete die Definition: … wonach die menschliche Existenz in ein unergründliches Universum geworfen ist, woraus die verzweifelte Situation des Individuums resultiert, das vollständige Verantwortung für seine dem freien Willen entspringenden Taten übernehmen muss, ohne dass ihm Sicherheiten in Bezug auf Kategorien wie richtig und falsch oder gut und schlecht zur Verfügung stünden. Ich musste die Definition zweimal lesen, bis ich sie verstanden hatte. Ein einzelnes Wort kann eine Menge beinhalten, so viel steht mal fest!
Ricks Zimmer ist leicht ausfindig zu machen dank des großen
Aufklebers mit Totenschädel und gekreuzten Knochen. Ich klopfe an die Tür und hoffe halbwegs, dass er sich verdrückt hat und gar nicht im Zimmer ist. Was tue ich eigentlich hier? Warum vertraue ich ihm?
»Komm rein und zieh deine Sneakers aus«, ruft er von drinnen.
Vorsichtig schiebe ich die Tür auf und finde ihn auf dem Fußboden, umgeben von Büchern. Während ich meine Schuhe ausziehe, entdecke ich ein buntes Poster mit lauter Linien und geometrischen Formen über seinem Bett.
»Das ist ein Shri-Yantra-Diagramm«, erklärt Rick. »Die Betrachtung der miteinander verbundenen Dreiecke soll dich in einen Trancezustand versetzen. Das wird zu unseren Übungen gehören.«
Ich setze mich zu ihm auf den Boden und werfe einen Blick auf die Buchtitel. Mystik für Dummies, Das holografische Universum und Neue Physik: Nicht mehr das, was Ihr Vater darunter versteht. Mein Puls beschleunigt sich. Das ist die Art von Büchern, die ich lesen
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