Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
verwechsle dabei rechts und links, mache mir aber nicht die Mühe, das in Ordnung zu bringen. Obwohl ich Angst vor der Antwort habe, frage ich: »Hast du das ganze Zeug, das du mir erzählt hast, erfunden, das mit dem Wesen der Wirklichkeit?«
»Nein«, sagt er und klingt diesmal aufrichtig. »Ich schwör’s, das stimmt alles.«
Ich bin erleichtert, als ich das höre. Aber ich bin nach wie vor sauer, dass er mich auch nur einen Moment lang hat glauben lassen, er könnte mich unsichtbar machen. Ohne mich zu verabschieden, verlasse ich sein Zimmer und falle fast über meine eigenen Füße, als ich den Flur entlangrenne. Als ich an Samanthas Zimmer vorbeikomme, kriege ich mit, dass sie und Lizzy Musik hören und lachen.
Rick holt mich ein, als ich schon halb zu seiner Wohnungstür raus bin.
»Wozu sollte ich mich wohl unsichtbar machen wollen? Das ist was für Kleinkinder!«
Ich bin lediglich ein Jahr jünger als er, aber ich drehe mich nicht um und erinnere ihn daran. Dafür dass ich ihm vertraut habe, kann ich nur mich allein verantwortlich machen.
Und Lizzy vielleicht. Lizzy allemal.
Kapitel 13: Das Fernrohr
Mary stellt vor jeden von uns ein großes Limonadenglas und in die Mitte des weißen Verandatischs einen Teller mit Schokoladenkeksen. Auf jeden Keks hat sie in der Mitte einen kleinen Reese’s-Schoko-Erdnussbutter-Riegel geschmolzen. Als sie meinen begeisterten Gesichtsausdruck sieht, zwinkert sie mir zu. Und ich dachte, nichts könnte mich aus meiner trüben Stimmung locken.
Wir sitzen hinter Mr Oswalds Haus im Garten, weil seine Schreibtischschubladen gerade eingepackt werden. Ich hatte keine Ahnung, dass es außer den Parks in Manhattan noch weitere Gärten gibt. Von hier klingen die Straßengeräusche gedämpft und in den kleinen Bäumen zwitschert tatsächlich der eine oder andere Vogel. Es ist sehr friedlich.
»Darf ich Ihre Notizhefte sehen?«, fragt Mr Oswald und streckt die Hand aus. Ich öffne den Reißverschluss an meinem Rucksack und übergebe ihm meines. Lizzy zieht ihres aus der vorderen Hosentasche und entschuldigt sich, dass sie es so platt gedrückt hat.
Gestern Abend habe ich die komplette S.v.J. gebraucht, um meine Gedanken zu dem Erlebnis bei Mr Rudolph niederzuschreiben. Ständig habe ich das, was er uns erzählt hatte,
durcheinandergeworfen mit dem, was Rick gesagt hat, dass nämlich im innersten Kern nichts miteinander verbunden ist. Die ganze Nacht hatte ich das Gefühl, ich würde, wenn ich die Augen zumachte, davontreiben ins Leere und ins Nichts. Ich weiß ja, ich hätte über den Besuch direkt nach der Rückkehr nach Hause schreiben sollen, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich in meiner Identitätskrise zu suhlen. Aus welcher ich auch – so friedlich es ist, Schmetterlingen beim Vorbeiflattern zuzuschauen – noch nicht vollständig heraus bin.
Ich beobachte Mr Oswalds Miene, während er als Erstes Lizzys Notizbuch liest. Hin und wieder lächelt er, nickt oder schaut verständnislos. Ich werfe einen Blick zu Lizzy hinüber: Sie ist ein bisschen zappelig, streckt die nackten Beine abwechselnd vom Plastikstuhl weg oder zieht sie wieder an.
»Sehr gut, Miss Muldoun«, sagt er, klappt ihr Notizbuch zu und gibt es ihr zurück. »Sie haben ein gutes Auge und nehmen die winzigen Details in der Umgebung von Menschen wahr.« Lizzy strahlt, als sie das Notizbuch von ihm entgegennimmt. »Beim nächsten Mal«, fügt er hinzu, »könnten Sie vielleicht etwas mehr von dem aufgreifen, was die Menschen, denen Sie begegnen, zu sagen haben und was dies in Ihnen für Gefühle ausgelöst hat. Einverstanden?«
Lizzy nickt unsicher, sie ist noch immer sichtlich befriedigt von dem vorausgegangenen Kompliment.
»Und ich hoffe, Sie freuen sich an Ihrer neuen Lampe«, setzt er lächelnd hinzu.
»Oh ja«, sagt Lizzy fröhlich. »Mein Dad hat eine Glühbirne reingeschraubt und eine neue Kordel drangemacht und sie funktioniert super! Unser Wohnzimmer hat jetzt viel mehr
Farbe.« Dann ergänzt sie hastig: »Ich hab Mr Rudolph gesagt, er soll sie mir nicht schenken, ehrlich.«
Mr Oswald lächelt warm. »Ich weiß. Er hat es mir erzählt.«
»Sie haben mit Mr Rudolph gesprochen?«, frage ich erstaunt. Er nickt.
»Hat er, hm, irgendetwas über uns gesagt?«
»Nur, dass Ihr Besuch ihm sehr viel Freude gemacht hat.«
»Oh, dann ist es ja gut«, erwidere ich erleichtert. Vielleicht würde es Mr Oswald nicht gefallen, wenn er wüsste, dass wir Mr Rudolph nach dem Sinn des Lebens gefragt
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