Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
haben, hat mich das neugierig gemacht, das ist alles. Was könnte denn schlimmstenfalls passieren?«
»Ich weiß nicht. Sie könnten uns mit Mistgabeln und Fackeln rausjagen.«
Hinter uns sagt eine Frau: »Von den Mistgabeln machen wir schon seit Jahren keinen Gebrauch mehr, nicht wahr, Henry?«
»Zweifellos«, antwortet eine männliche Stimme. »Abgesehen von der einen Ausnahme. Aber der Kerl hatte es wirklich verdient.«
Ich fahre zusammen und drehe mich langsam um. Ein älteres, Händchen haltendes Paar steht ein paar Schritte entfernt und grinst.
»Entschuldigen Sie meinen Freund«, sagt Lizzy und tritt zu ihnen. »Er kommt nicht viel unter Leute.«
»Keine Sorge«, sagt die Frau. »Wir wollten uns nicht über
euch lustig machen. Wir sind einfach Spaßvögel. Wenn ihr es mit dem Gottesdienst versuchen wollt, habt bitte keine Scheu. Ihr könnt euch hinten hinsetzen, damit es euch nicht peinlich ist, falls ihr mittendrin gehen wollt.«
»Was sagst du jetzt?«, fragt Lizzy.
Ihre Miene ist so voller Hoffnung, wie kann ich da Nein sagen? »In Ordnung.« Ich stopfe meine Hände in die Shortstaschen. »Aber du musst versprechen, dass du gehst, wenn ich dich darum bitte.«
»Ich versprech’s«, sagt Lizzy und zieht mich zu der offenen Tür. Sobald ich die Schwelle überschritten habe, entspanne ich mich ein bisschen. Es sieht tatsächlich nicht allzu bedrohlich aus. An der Rückwand schaut man durch hohe Fenster auf den Strand mit dem Meer dahinter. Vor einem kleinen Podest sind ungefähr zwanzig Reihen Klappstühle aufgestellt. So um die fünfzehn Leute sitzen schon dort. Ich sehe nirgends Kreuze oder sonst etwas wirklich Religiöses. Dann drückt mir wie aus heiterem Himmel eine Frau in wallendem weißem Gewand eine Bibel in die Hand. Ich schaue überrascht auf, aber sie ist schon zum Nächsten weitergegangen.
»Wie kommt es, dass sie dir keine gegeben hat?«, frage ich Lizzy, als ich sehe, dass ihre Hände leer sind.
»Sie hat gesagt, dass wir gemeinsam reinschauen sollen«, antwortet sie und deutet auf zwei Plätze in der hintersten Reihe. »Komm, setzen wir uns.«
Ich folge ihr leicht benommen. »Wann hat sie das gesagt?«
Lizzy rollt mit den Augen. »Unmittelbar bevor sie dir das Ding in die Hand gedrückt hat.«
Ich schüttle den Kopf und setze mich auf einen der harten Plastikstühle. Die Plätze füllen sich allmählich mit Leuten aus
allen Gesellschaftsschichten. Einige in Kleid und Anzug, ein Mann in zerlumpter Hose und ohne Schuhe, ein Surfer mitsamt Surfbrett und ein paar junge Gothics. Alle begrüßen sich, als wären sie alte Freunde. Ein paar lächeln uns an, und wir lächeln zurück, als täten wir die ganze Zeit nichts anderes. Ich schlage die Bibel auf und stelle erstaunt fest, dass es gar keine Bibel ist. Es ist ein Gesangbuch!
Ich wende mich an Lizzy. »Was ist das hier überhaupt für eine Kirche?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Ich lasse mich auf meinem Stuhl nach unten rutschen. Ein paar Minuten später fordert der Pfarrer oder was immer er ist uns alle auf, aufzustehen und Seite drei in dem Buch aufzuschlagen. Ich erwarte ein Kirchenlied, aber stattdessen steht auf Seite drei der Liedtext von The Wind Beneath My Wings . Ich schaue zweimal hin und halte die Seite dann schräg, damit Lizzy sie sehen kann. Mom ist ein großer Bette-Midler-Fan, und ich habe den Film Freundinnen öfter über mich ergehen lassen müssen, als einem Jungen je zugemutet werden sollte.
Lizzy flüstert kichernd: »Did I ever tell you you’re my hero?«
Ich antworte mit der nächsten Zeile: »You’re everything, everything I wish I could be.«
»Ehrlich?«, sagt sie und schaut von dem Buch auf.
Ich forme mit den Lippen ein Nein und schüttle den Kopf.
Als die ganze Gemeinde singt, dass sie höher als ein Adler fliegen will, bin ich tatsächlich gerührt. Das Lied von dieser großen Gruppe in dieser Kirche an einem Strand gesungen zu hören, ist wahrhaftig erhebend. Niemand käme auf die Idee, dass ungefähr zehn Meter entfernt Leute Black Jack spielen
und an Spielautomaten stehen, während zusätzlicher Sauerstoff durch die Lüftungsklappen gepumpt wird, damit die Spieler nicht müde werden.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Leute in die Kirche gehen. Für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Flucht aus der Alltagsroutine, bei der die Leute im Allgemeinen nicht in gemeinsame Gesänge verfallen. Ich bin erst seit zehn Minuten hier und merke es schon. Ich merke auch, dass
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