Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
meint Vesna mit dem forschenden Blick einer zweifachen Mutter.
„Geht schon“, keuche ich. Ob meine Lunge doch etwas abbekommen hat?
Wir stehen vor der Tür. Wir haben beide einen Schlüssel, ich fingere meinen aus der Tasche, sperre auf und öffne die Tür. Irgendetwas ist seltsam. Dann atme ich erleichtert, wenn auch vorsichtig, auf. Gismo. Es ist Gismo, die fehlt. So viele Jahre lang war ich es gewohnt, dass mir meine Katze entgegengelaufen kam. Hungrig. Neugierig. Dankbar, dass ich wieder da war. Beleidigt, weil ich zu lange weg gewesen war. Wir gehen nach drinnen, Vesna schließt die Tür. Am Vorzimmerständer hängt nicht nur eine Jacke, da hängen auch Plastiktüten, ein Pullover, Strumpfhosen, ein Büstenhalter. Wie das aussieht. Am Boden die Reisetasche, die Carmen mitgebracht hat. Offen. Hat hier jemand etwas gesucht? Unsinn. Carmen dürfte nur nicht besonders ordentlich sein. Was hast du, Mira? Bist ja selbst keine Ordnungsfanatikerin. Aber ein bisschen Ordnung, noch dazu, wo man auf Besuch ist … Warum konnte sie die Tasche nicht wenigstens aus dem Vorzimmer räumen? Vesna hat die Schlafzimmertüre geöffnet. Das Bett ist ungemacht, auf dem Boden liegen Jeans. In ihrem Nobelinternat hatten sie wohl Bedienstete, die ihnen solche Alltagsarbeiten abgenommen haben. Vesna sieht sich das ungemachte Bett genauer an. Was will sie hier finden? Kampfspuren sind da keine. Nicht einmal gegen ihre eigene Faulheit scheint Carmen gekämpft zu haben.
„Sie hat hier nicht geschlafen“, sagt Vesna.
„Sieht aber schon so aus“, widerspreche ich.
Vesna kniet nieder und starrt auf das Leintuch. Sonnenlicht durchflutet das Zimmer. Sie kramt in ihrer Tasche.
„Was ist?“, frage ich doch etwas beunruhigt.
Lupe. Sie hat tatsächlich eine Lupe mit und untersucht damit ein Stück Leintuch.
„Blut?“, frage ich, und es sollte lustig klingen. Ein Scherz. Funktioniert aber nicht. Quatsch. Und außerdem: Blut bei einer jungen Frau muss nichts mit einer Gewalttat zu tun haben.
„Staub“, erwidert Vesna. „Zu viel Staub.“
Du liebe Güte, wo kommen wir hin, wenn Putzunternehmerinnen den Staub schon mit der Lupe suchen?
Vesna sieht mich an und seufzt. „Der Staub hat sich auf das Leintuch gelegt. Es ist sicher, dass die Bettwäsche schon länger nicht berührt wurde. Ich würde sagen, zwei Tage mindestens.“
„Du meinst: Sie hat seitdem nicht hier übernachtet?“
„Jedenfalls nicht in diesem Bett.“
Wir gehen in die Küche. Meine Idee: Kühlschrankcheck. Carmen hatte nicht vor, zu kochen. Die paar Blätter Schinken sind eingedörrt. Und die Milch in der Packung ist vorgestern abgelaufen. Ich starre noch immer in meinen Kühlschrank, als Vesna aus dem Bad ruft: „Da ist alles staubtrocken. Sie war schon längere Zeit nicht in der Wohnung, da kannst du sicher sein.“
Ich wähle Carmens Mobilnummer. Gleich wird sie drangehen.
„Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar“, sagt eine Stimme, die das völlig kalt lässt.
Wir stehen in meinem Wohnzimmer. Alles kommt mir mit einem Mal fremd vor. So als hätte es längst aufgehört zu existieren. Man lebt. Man hat gelebt. Man ist tot. Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt ein?
„Carmen wollte sich mit Zerwolf treffen“, murmle ich.
„Na der ist wenigstens gut bewacht. Von Journalisten und von Polizei“, kontert Vesna.
„Jetzt schon …“ Unsinn, was soll das Verschwinden von Carmen mit Zerwolf zu tun haben? Etwas anderes ist jedenfalls kein Unsinn: Carmen ist verschwunden. So wie vor ihr Franziska Dasch verschwunden ist. „Und wenn sie Heimweh hatte?“, frage ich trotzdem.
Vesna schüttelt den Kopf. „Hat nicht nach Heimweh ausgesehen, diese Carmen.“
Oskars Tochter. Verschwunden. Und wir haben daran Schuld. Wir haben sie auf die Spur einer anderen gehetzt, die verschwunden ist. Ich habe mir die Nummer von Carmens Mutter notiert. Für alle Fälle. Jetzt wähle ich die Nummer von Denise Stiller. Meine Hand zittert. Mein Brustkorb schmerzt, aber das sollte mir jetzt wirklich egal sein.
„Bei Stiller.“ Stimme mit Schweizer Akzent. Zum Glück Deutsch und nicht Französisch.
„Könnte ich bitte Frau Denise Stiller sprechen?“
„Wie ist bitte Ihr Name?“
„Mira Valensky. Ich bin eine Studienfreundin ihrer Tochter.“
„Frau Stiller weilt im Ausland und ist leider nicht erreichbar.“
„Es ist wichtig.“
„Ich kann ihr eine Nachricht zukommen lassen, aber das wird einige Zeit dauern und es liegt
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